Was war Ihrer Meinung nach wahlentscheidend?

ULRIKE GUÉROT: Einerseits die beiden Terrorattacken kurz hintereinander, Manchester und Tower Bridge, da wanderte die Fokussierung weg vom Brexit hin zum Thema Sicherheit. Man hat May ja den Abbau von 20.000 Polizeistellen vorgehalten, das war in aller Munde. Und Labour-Chef Jeremy Corbyn hat auf sehr intelligente Weise den britischen Bernie Sanders gegeben. Noch vor einem Jahr galt er als Totengräber der Labour Party, jetzt gibt es ein munteres Erwachen, wie auch Bernie Sanders derzeit nicht nur in den USA sondern auch in Europa einen Hype erlebt.  Das ist eine kleine Sternstunde einer neuen, wirklichen Sozialdemokratie, die nicht nur rosa daherkommt, sondern rot.

Was bedeutet das Ergebnis für Theresa May persönlich?

GUÉROT: Es ist wirklich eine große Niederlage, sie hat ein schlechteres Ergebnis als zuvor. Ziel waren ja, mehr Stimmen zu erhalten, um eine solide Verhandlungsposition zu bekommen. Jetzt hat sie ihre eigene Position verschlechtert, das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Brexit-Verhandlungen. Die Zustimmung der Briten zum Brexit bekommt wieder ein Fragezeichen, die Position wackelt. Es wurde zwar nicht über Brexit abgestimmt, aber der Subtext dieser Wahlen und ihres Ergebnisses ist doch, dass May und der Brexit nicht mehr diese Unterstützung in der Bevölkerung zu haben scheinen wie angenommen. Das sind für mich, als Europa-Befürwortern, absolut positive News.

Ist Ihrer Meinung nach ein Rückzieher vom Brexit denkmöglich?

GUÉROT: Ich wage noch nicht zu hoffen, dass das noch zu drehen ist. Aber eine Premierministerin, die in zwei Jahren mit einem schlechten Verhandlungsergebnis dasteht wie ein begossener Pudel, was kann daraus werden? Eine wirtschaftliche Katastrophe? Wir wissen es nicht. Noch sind die Wirtschaftszahlen rosig, weil die Zentralbank  alles deckt. Aber das könnte sich sehr schnell drehen. Der Brain Drain, die Abwanderung der jungen, hellen Köpfe, ist schon in Gange.

Was bedeutet das für Europa?

GUÉROT: Das Ergebnis ist zu deuten als Votum für Europa. Zumal ja, das muss man sehen, die Neuigkeiten über diese Wahlen zusammenfallen mit einer neuen Dynamik in Europa. Der europäische Staatsanwalt kommt, das europäische Militärkommando. Dinge, an die man nicht mehr geglaubt hat in den vergangenen Jahren. Europa kommt in die Gänge. Es hieß immer: Ohne Briten ginge alles besser. Wenn die Briten mitkriegen, dass Europa ihnen davonlaufen könnte, dann ergibt das eine andere Gemengelage.

Der Exit vom Brexit wäre also möglich?

GUÉROT: Ich halte das für denkbar, ja. Ich habe immer still und heimlich gehofft, dass es noch ein Nadelöhr in der Geschichte gibt. Aber wenn, dann wird man das nicht groß ankündigen, da geht es darum, das Gesicht zu wahren. Man würde wohl eher die Verhandlungen tot laufen lassen. Obwohl: Die Bevölkerung reagiert nicht gut auf so unsaubere Sachen. Der Gang nach Canossa wäre wahrscheinlich besser, aber soweit sind die Briten noch nicht.

Meinen Sie, dass Frau May zurücktreten wird?

GUÉROT: Ich glaube, dass sie anders handeln will als seinerzeit Cameron und Johnson. Ihr Credo sind Loyalität und Solidarität: Sie war bereit, den Brexit zu vollziehen, obwohl sie ursprünglich dagegen war. Ich würde vermuten, dass sie das Wahlergebnis auch jetzt mit Würde trägt. Das ist auch eine eher weibliche Attitüde, nicht davonzulaufen.  Ich glaube, sie bleibt, aus einer Mischung aus Stolz und der Erkenntnis, dass außer ihr keiner da ist. Sie war ja schon die letzte Reserve der Tories.