51,3 Prozent Ja-Stimmen für die türkische Verfassungsreform. Eine Mehrheit für Staatsschef Recep Tayyip Erdogans Pläne, aber gleichzeitig fast die Hälfte der Bevölkerung dagegen. Und die Ankündigung des Staatschefs, er könne sich jetzt auch ein Referendum über die Wiedereinführung der Todesstrafe vorstellen. Damit endete dieser Ostersonntag.

Die Wahlkommission in der Türkei hat das "Ja"-Lager zum Sieger des Verfassungsreferendums erklärt. Die Zahl der "Ja"-Stimmen liege um gut 1,25 Millionen über jener der "Nein"-Stimmen, sagte Kommissionschef Sadi Güven am Abend in Ankara. Rund 600.000 Stimmen seien noch nicht ausgezählt. Endgültige Zahlen könnten nach Angaben der Wahlbehörde aber erst in elf bis zwölf Tagen bekanntgegeben werden.

Doch zurück zu den Stunden davor: Es schien zu laufen wie am Schnürchen: Kontinuierlich schienen in der Grafik der staatlichen Nachrichtenagentur, die von vielen türkischen Medien übernommen wurde, neue Wahlergebnisse auf. Je mehr Ergebnisse aus den Städten eintrudelten, desto geringer wurde der Vorsprung der Ja- Stimmen.

Was leicht zu erklären ist: Am flachen Land schlossen die Wahllokale als erstes. Dort, wo die Zahl der Erdogan-Anhänger am größten ist. wurde also als erstes ausgezählt. 63 Prozent für die Verfassungsreform, hieß es nach 25 Prozent der ausgezählten Stimmen. Minute um Minute wurden es weniger. Vor allem im Westen und Südwesten, entlang des Mittelmeeres, und in den kurdischen Widestandsnestern im Osten stimmte die Bevölkerung überwiegend mit Nein.

Schon schien es möglich, dass sich das Resultat des Referendums noch umdrehen könnte. Eine große Stadt nach der anderen dreht sich, die Ergebnisse dort verkehrten sich in ein Nein zur Reform.  Doch plötzlich schien Sand ins Getriebe zu kommen. Nur noch in großen Abständen erhöhte sich die Zahl der ausgezahlten Wahlsprengel. Und die Zahl der Ja-Stimmen blieb zwischen 18 und 20 Uhr unserer Zeit praktisch konstant.

Zweifel am Ergebnis

Gleichzeitig mehrten sich die Stimmen derer, für die nicht alles nach rechten Dingen zuging bei dieser Abstimmung:

  • Die Zahlen, die die staatliche Nachrichtenagentur veröffentlichte, wichen ab von denen der Obersten Wahlbehörde, hieß es.
  • Die prokurdische HDP erklärte, es gebe Hinweise auf eine "Manipulation der Abstimmung in Höhe von drei bis vier Prozentpunkte".
  • Der Vizechef der Oppositionspartei CHP, Bülent Tezcan, warf der Hohen Wahlkommission (YSK) vor, gegen die Regeln verstoßen zu haben, als sie nicht offiziell zugelassene Stimmzettel als gültig akzeptierte.
  • Ein anderer CHP-Vize Erdal Aksunger erklärte seinerseits, die Partei erwäge bis zu 60 Prozent der Stimmzettel anzufechten. Zahlreiche Wähler hatten sich beschwert, dass ihnen Stimmzettel und Umschläge ohne den offiziellen Stempel ausgeteilt worden seien. Am Nachmittag erklärte die Wahlkommission aber, dass die entsprechenden Wahlzettel als gültig gewertet würden, solange nicht bewiesen sei, dass sie von außerhalb in die Wahlkabinen gebracht worden seien.

Als es 21 Uhr wurde und beim Auszählungsstand immer noch nichts weiter ging , zog Premier Binali Yildirim die Reißleine: Er verkündete den Sieg des Ja-Lagers, mit 51,3 Prozent. Das Volk habe das letzte Wort gesprochen: "Es hat Ja gesagt und einen Punkt gesetzt." Schon zuvor hatte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Botschaft verbreiten lassen, dass das Ergebnis jedenfalls legitim und demokratisch zustande gekommen sei.  Er sei der türkischen Nation dankbar dafür, dass sie an den Wahlurnen ihren Willen - der auch der seine ist - erklärt habe.

"Mit dem Volk haben wir die wichtigste Reform in unserer Geschichte realisiert", sagte Erdogan am Sonntagabend in seiner Residenz in Istanbul. Er rief das Ausland auf, das Ergebnis des Referendums zu respektieren. Erdogan sagte, das "Ja"-Lager sei mit 25 Millionen Stimmen um 1,3 Millionen Stimmen vor jenem des Nein-Lagers gelegen. Mit dem Referendum werde das herrschende System erstmals nicht durch militärische Intervention sondern durch zivile Politik verändert. 

Erdogan fügte hinzu, man könne nach dem Verfassungsreferendum nun auch eine Volksabstimmung über die Wiedereinführung der Todesstrafe ansetzen.

Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Erdogan hat derzeit eine Mehrheit hinter sich - vor allem auch dank der vielen Auslandstürken. In Deutschland stimten diese mit 63 Prozent für seine Verfassungsreform, in Österreich sogar mit rund 72 Prozent. Für eine Reform, die die, die sie praktisch ermöglicht haben, gar nicht betrifft. Aber es ist eine knappe Mehrheit - wenn denn alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Und es ist wohl auch ein Risiko für ihn, dass die Hälfte aller Türken hochoffiziell bekundet hat, dass sie diesen Teil des Weges - und vielleicht nicht nur diesen - nicht mit ihm gemeinsam gehen wollen.

Wofür die Türken stimmten

Kurzfristig ist es ein Sieg. Mit der Verfassungsreform soll der Staatspräsident auch zum Chef der Regierung werden, das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft. Er kann mit Dekreten regieren, ohne Zustimmung des Parlaments. Er würde Vize und Minister berufen und entlassen, Uni-Rektoren berufen, hätte Einfluss auf die Berufung von Höchstrichtern und Staatsanwälten. Und er könnte den Notstand ausrufen bzw. das Parlament auflösen und Neuwahlen herbeiführen. Beschlüsse gegen sein Veto könnte das Parlament nur mit absoluter Mehrheit fassen.

Wie Europa reagiert

Die Reaktionen sind gespalten: Einerseits Erleichterung darüber, dass das Votum endlich zu Ende ist und insbesondere auch in den europäischen Staaten bzw. in den Beziehungen dieser Staaten zur Türkei Ruhe einkehrt. Deutschlands Außenminister Sigmar Gabriel formuliert, es sei gut, dass der "erbittert geführte Wahlkampf" um das Verfassungsreferendum in der Türkei vorbei ist: "Wir sind gut beraten, jetzt kühlen Kopf zu bewahren und besonnen vorzugehen."

Andererseits Besorgnis angesichts des tiefen Spalts, der durch die Türkei und ihre Bevölkerung geht. Die Zusammenarbeit mit der EU werde angesichts des Spalts noch komplizierter, vermutet Österreichs Außenminister Sebastian Kurz zu Recht auf Twitter:

Und der ÖVP-Delegationsleiter im Europaparlament, Othmar Karas, spricht von einer "dunklen Stunde", denn: "Das Parlament wird geschwächt. Der Präsident bekommt Super-Power über Minister, Verfassungsgericht und Gesetze."

Der Druck auf die Zivilgesellschaft, Medien, KurdInnen und NGOs werde sich weiter erhöhen, vermutet Grünen-Chefin Eva Glawischnig.

Ulrike Lunacek, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und Delegationsleiterin der österreichischen Grünen, erklärte, die relativ knapp bestätigte autoritäre Ausrichtung der Erdogan'schen Politik müsse von der EU mit einem gleichermaßen eindeutigen Bekenntnis zu den europäischen Werten beantwortet werden. Die von Erdogan angestrebte verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit dürfe es nicht geben, solange er seinen autoritären Kurs fortsetze.