Es war der erste Auftritt des neuen österreichischen Bundespräsidenten. Er begann und endete in englischer Sprache, und er sprach ausdrücklich nicht nur die Abgeordneten im Saal sondern die 500 Millionen Menschen an, die im europäischen Raum leben.

Van der Bellen erinnerte zu Beginn an seine Familiengeschichte: Die Mutter war Estin, dreisprachig. Vater kulturell Russe, ethnisch ein Westeuropäer. Seine Vorfahren seien im 18. Jahrhundert aus den Niederlanden nach Russland emigriert. Er selbst sei in Wien geboren, in den Tiroler Bergen aufgewachsen, sei international in der Forschung tätig gewesen, spreche „zweidreiviertel Sprachen“, weil der nahezu unverständliche Tiroler Dialekt praktisch eine   eigene Sprache sei. Van der Bellen  amüsierte die Abgeordneten mit einem Beispiel „Letzte Nacht ist wie gestern“, tatsächlich unverständlich in der Formulierung in seinem Dialekt!

"Eine glückliche Verbindung"

Er sei also Österreicher und Mitteleuropäer, aus einer glücklichen Verbindung vieler einzigartiger Umstände entstanden. Genau das sei auch das vereinigte Europa für ihn heute: Eine glückliche Verbindung vieler einzigartiger Umstände.

Es sei in Mode gekommen, dass man sich entscheiden müsse zwischen der Liebe zum Vaterland und der Liebe zu Europa, zwischen der Hilfsbedürftigkeit der eigenen Leute und jener anderer, zwischen dem Eigennutz für sich selbst und dem Nutzen für andere. Aber dieser Weg führe in die Irre. Man könne sein Heimatland leben und die europäische Idee. Man könne seinen Landsleuten helfen und anderen, sich selber nützen und zum Wohle anderer beitragen. Das alles schließe einander nicht aus. „Wir brauchen einander. Europa ist für mich ein Kontinent des UND und nicht des ENTWEDER ODER.“

Unser aller Zukunft sei unmittelbar mit der Zukunft Europas verbunden. Er habe im Wahlkampf eine proeuropäische Haltung vorangetragen, und damit die Wahl gewonnen. „Ich will allen proeuropäischen Kräften Mut machen: Es ist möglich, mit einer glasklaren proeuropäischen Haltung auch Wahlen zu gewinnen.“

Absage an Nationalismus und Populismus

Seine Erfahrung sei, dass insbesondere die ganz jungen Wähler – in Österreich ab 16 – sich ihre Zukunft in der europäischen Union nicht nehmen lassen wollten, Und bei den ganz Alten schössen neuerdings – nicht ganz zu Unrecht – Erinnerungen an die 30er Jahre hoch. „Meine Wahl war eine klare Absage an den aufkeimenden Nationalismus, an den Protektionismus, an den Populismus.“

Van der Bellen: „Es ist meine Überzeugung, dass man mit der Verletzung der Würde anderer, der Einschränkung innerhalb neuer Mauern, alten Nationalismen kein einziges Problem löst. Im Gegenteil, man schafft neue.“ Das sei keine Prognose, sondern eine Erkenntnis, aus leidvollen Erfahrungen insbesondere aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, „aus denen wir unsere Lehren gezogen haben, oder zumindest gezogen haben sollten“.

Der österreichische Bundespräsident appellierte an sein Publikum, den Blick nach vorne zu richten: „Die Einhaltung unserer europäischen Werte ist die Voraussetzung für die Bewältigung der vielen Herausforderungen. Die Entscheidung ist nicht zwischen nationalen und internationalen oder transnationalen Interessen zu fällen, sondern es geht darum: Glauben wir noch, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten und Würde geboren sind, glauben wir noch an den Artikel 1 der Erklärung der Menschenrechte?“

Gelungenes Projekt einer offenen Gesellschaft

In wenigen Tagen feiere die Union ihren 60. Geburtstag. „Diese 60 Jahre sind eine Erfolgsgeschichte. Manchmal habe ich den Eindruck mehr für die, die außerhalb der Union leben, als für die innerhalb der Union leben.“ Man gedenke in Kürze verschiedener Ereignisse in der Vergangenheit, wie des Einmarsches Hitlers, des Endes des Prager Frühlings. „Sorgen wir dafür, dass nicht nur Kränze angezündet und feierliche Reden gehalten werden, sondern ein neues europäisches Bewusstsein gestärkt wird: Die EU ist das gelungene Projekt einer offenen Gesellschaft.“

Einmal mehr sagte Van der Bellen der „Verzwergung“ den Kampf an: „Auf Basis des gemeinsam errungen Friedens, können wir Europa zu Wohlstand und Blüte führen, die einzelne nicht erreichen können. Es ist eine Tatsache: Wir sind gemeinsam stärker als allein. Wenn wir auf diese Wahrheit vergessen, setzen wir alles aufs Spiel, was dieses Europa ausmacht.“

Gegen die Verzwergung

Von außerhalb betrachtet, könne es für andere Staaten, zum Beispiel an der östlichen Außengrenze oder jenseits des Atlantiks, erfolgreich und profitabel erscheinen, Europa auseinanderzudividieren. „Ich halte es für Zeitverschwendung, darüber zu klagen. Realpolitisch müssen wir damit rechnen, dass Drittstatten versuchen werden, die europäische Verhandlungsmacht zu schwächen.“

Die Verhandlungsmacht sei für einen einzelnen Staat aber ungleich kleiner, daher liegt es im Interesse aller, einen Rückfall in die frühere Kleinstaaterei zu vermeiden.

Schließlich bezog sich Van der Bellen auch noch auf das Märchen vom Hans im Glück: Dieser besitze einen großen Klumpen Gold, fange damit einen Tauschprozess an. Zum Schluss ende er mit einem schlichten Stein. Immer lasse er sich einreden, es sei ein gutes Geschäft. „Ich habe den Eindruck, wir stehen in Europa an einem Punkt, an dem der Affekt wichtiger wird als die Vernunft. Lassen Sie nicht zu, dass wir uns selber einreden, dass nationale Macht mehr wäre, am Ende wäre das ein Verlust für alle.“

Welches der großen Probleme könnte der Einzelstaat besser lösen, fragte Van der Bellen.  Flucht und Migration? Klimawandel und Energiepolitik? Arbeitslosigkeit und Armut? Krieg und Gewalt und Terror? „Don’t make me lough!“ All das sei, wenn überhaupt, nur gemeinsam lösbar.

Alle Kraft bei der EU

„Ich war Ökonom, ein bisschen bin ich es immer noch: Wer, wenn nicht die europäische Gemeinschaft, hat die Macht und die Kraft, globale Konzerne bei Missbrauch in die Schranken zu weisen?“ Er erinnere an die Auseinandersetzungen mit Google,  Apple , Microsoft & Co. „Da Spielregeln ausverhandeln, das kann kein Einzelstaat.“

Gemeinsam könne man an einem Europa arbeiten, in dem Menschenrechtsprinzipien wie Freiheit und Respekt vor dem anderen eine Chance hätten, einem Europa, in dem Sicherheit, Wohlstand und sozialer Friede zu Hause seien. „Aber wir müssen daran arbeiten. Europa ist unvollständig und verletzlich.“ Und wundern dürfe man sich nicht darüber, dass es nicht einfach sei, wenn 28 hoch entwickelte Industriestaaten ein Drehbuch schreiben müssten für ihr Zusammenleben. „Die Notwendigkeit von Zweifel ist mir bewusst, aber der Nutzen muss im Vordergrund stehen, die Zuversicht muss den Zweifel überwiegen, sonst werden wir keine Verbesserungen bewirken können.“

Europa entscheide selbst darüber, in welche Richtung es sich entwickeln wird, und wie es in der ganzen Welt gesehen werden soll. „Ich glaube an ein gemeinsames, starkes Europa, in dem die Grundwerte der Menschenrechte, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, heute würde ich sage Solidarität, und die rechtsstaatlichen Grundfesten beachtet werden, in dem der Klimawandel erst genommen wird, und wo wir zwischen Tatsachen und „fake news“, „alternative facts“ imstande sind zu unterscheiden. Ich glaube, dass ein solches Europa DAS Vorbild für die ganze Welt sein kann. Wir müssen aber dann dazusagen, dass diese europäischen Werte unverhandelbar sind.“

"Nicht zulassen, dass Europa der Jugend gestohlen wird"

Ich möchte meine Worte bei der Angelobung an die Jüngsten unter den Menschen, wiederholen, an die, die in den Kindergarten, in die Schule gehen, eine Lehre machen, an den Universität inskribiert sind: „Ihr seid es, die die Welt neu bauen werden, die dieses Europa neu bauen werden. Wir, die Älteren, wir brauchen euch. eure Leidenschaft, eure Ideen, euren Widerspruch, euren Respekt, eure Talente, eure Zuversicht, so wird dieses Europa weiterbestehen.“ Gemeinsam müssten Jung und Alt, diese Herausforderungen meistern. „Wir dürfen nicht zulassen, dass den Jüngeren Europa gestohlen wird.“

Europa zu zerstören sei nicht schwer, aber wiederaufzubauen, was einmal zerstört wurde, sei schwer, mühsam, zeitaufwändig. „Einen Baum haben Sie binnen Minuten gefällt, ihn wieder wachsen zu lassen, braucht Jahrzehnte. Lassen wir uns unsere Zuversicht nicht nehmen. Denn dieses Europa ist groß, einzigartig, und alle Mühen wert.“

Zum Abschluss zitierte Van der Bellen noch ein Gedicht von Sarah Williams und wandte es auf „sein“ Europa an: „I do love the stars too much to be fearful of night, or oft he next crisis of EU.“

Die Abgeordneten dankten ihm die flammende Rede mit Standing Ovations.