Muss Europa seiner Verantwortung gegenüber dem türkischen Volks nachkommen? Oder  muss man sich mit europäischer "Realpolitik" zufrieden geben, die die Entwicklung in der Türkei nur zur Kenntnis nimmt?

Diese Frage stellen sich Kerem Öktem, Professor am  Südosteuropa-Institut der Uni Graz, und Bilge Yabanci, Politikwissenschafterin in Rom mit einem Forschungsschwerpunkt auf dem Wechselspiel zwischen populistischen Parteien und der Zivilgesellschaft in der Türkei.

Der Befund, von dem sie ausgehen: Die Türkei steuert auf ein autoritäres System zu, Europa sehe dem tatenlos zu bzw. habe das Regime im Zuge des Flüchtlingspakets sogar zu einem Schlüsselpartner bei der Krisenbewältigung aufgewertet.

Die Reste von unabhängiger Presse und Zivilgesellschaft würden aufgearbeitet, Journalisten, Aktivisten und gewählte Politiker verhaftet, die Opposisionsparteien ausgeschaltet, ohne dass die EU oder die USA dem außer mahnenden Worten etwas entgegensetzten.

Öktem: "Mahnende Worte reichen nicht." Dass ein Beitritt der Türkei zur EU in weite Ferne gerückt sei, heiße nicht, dass Europa keinen Einfluss mehr auf die Türkei habe. Öktem und Yabanci zeigen Wege auf, wie die EU Druck ausüben könnte:

  • Die EU kann die Karte mit den Handelsbeziehungen spielen,
  • die EU kann die Beitrittsverhandlungen aussetzen, bis der Rechtsstaat wiederhergestellt sei und
  • die EU kann den Flüchtlingsdeal aufkündigen.

Wie das funktionieren könnte und was das für Folgen hätte?

Druck über die Handelsbeziehungen

Seit die Zollunion der EU mit der Türkei 1995 in Kraft trat, hat sich der bilaterale Handel im Volumen versechsfacht. Die Türkei brauche den europäischen Markt mehr als Europa den türkischen. Seit Jahren bemühe sich die Regierung um eine Ausweitung der Zollunion auf dem Produktionssektor auf die Bereiche der Dienstleistungen, der Landwirtschaft und der Auftragsvergabe im öffentlichen Dienst. Die Bemühungen der EU um Handelsabkommen mit Dritten ließen in der Türkei bereits die Alarmglocken schrillen.  Mit dem Verweis auf die Gestaltung künftiger Handelsbeziehungen könnte mindestens so viel Druck ausgeübt werden auf die Türkei wie über das Winken mit dem Voll-Beitritt.

Aussetzen der Beitrittsverhandlungen

Die Beitrittsverhandlungen auszusetzen klinge wie eine sehr radikale Option, aber: Ein Versprechen aufrecht zu erhalten, an das beide Seiten nicht mehr glauben, werde nirgendwo hinführen, warnen Öktem und Yabanci. Der klare Schnitt nütze Europa, weil es glaubhaft machen könne, für welche Werte es stehe, auch im Verhältnis zu Dritten. Und es würde die das türkische Regime unter Druck setzen, wenn Europa deutlich mache, dass der Grund nicht Vorbehalte gegen türkische Religion oder Tradition seien, sondern das Scheitern der Regierung an den demokratischen Grundregeln ist. Genau das müsste die EU aber auch direkt der türkischen Bevölkerung vermitteln, die zu mehr als 70 Prozent einen Beitritt zur EU begrüßen würde. Mit dem Risiko, dass das Erdogan-Regime umgehend EU-Bashing betreiben und den Flüchtlingsdeal aufkündigen würde.

Aufkündigen des Flüchtlingsdeals

Eine dritte Handlungsoption wäre es, den Flüchtlingsdeal, mit dem die Türkei Europa unter Druck setzt, aufzukündigen und sich damit wieder aus der Umklammerung zu befreien. Der Pakt sei ohnehin von endenwollendem Erfolg begleitet, mit nur wenigen Flüchtlingen, die das Land zurückgenommen habe und illegalen Grenzübertritten von der Türkei nach Griechenland, die nach wie vor an der Tagesordnung seien.

Trotz Deal seien 73.000 Flüchlinge auf dem Westbalkan gestrandet, 150.000 in Italien gelandet. Der jüngste Bericht der EU-Kommission belege weiters, dass die Patrouillen im Mittelmeer wieder zurückgegangen seien, das Personal von Asylstellen und Berufungsinstanzen in Griechenland nicht ausreichend aufgestockt worden, das türkische Grenzmanagement überfordert sei. "Ganz offensichtlich kann eine offen autoritäre und islamistische türkische Regierung  auch kein verlässlicher Partner der EU und die Türkei definitiv kein sicheres Drittland sein."

Die Autoren des Texts geben allerdings zu, dass eine Alternative nur möglich ist, wenn es innereuropäische Solidarität mit Griechenland und Italien gibt, wenn Ressourcen für die Sicherung der Grenzen aufgestockt statt die Aufgabe ausgelagert wird, und wenn die Türkei dennoch davon abgehalten wird, die EU mit Flüchtlingen zu fluten, wie sie bereits angekündigt hat.

Andere Antworten für Rechte finden

Wie die Rechte darauf reagiere, sei indes unerheblich, denn diese brauche ohnehin keinen physisch präsenten "Feind", sondern lebe vom Schlechtmachen der kulturellen Vielfalt prinzipiell, die immer der Kitt Europas gewesen sei. Im Visier der Rechten seien Neuankömmlinge genaus wie längst integrierte Zuwanderer, mit oder ohne Flüchtlingsdeal. Darauf müsse Europa andere Antworten finden.

Das unkontrollierte Öffnen seiner Grenzen könne und wolle sich ein autoritärer Staat übrigens ohnehin nicht leisten, denn er müsse in erster Linie auch die eigenen Bürger davon abhalten, aus dem Land zu fliehen.

Wozu brauchen wir sonst die EU?

Die Autoren des Texts kommen zu einem nüchternen Ergebnis: Die Türkei sei dabei, ein autoritärer Staat zu werden - ein historischer Moment. Schaut die EU einfach nur zu, stelle sich die Frage, ob sie jemals wieder entscheidungsfähig werde, wenn es um die Konfliktlösung in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gehe. "Falls nicht: Wozu brauchen wir dann überhaupt die EU?"

Es liege im ureigensten Interesse der EU, der Entwicklung in der Türkei entgegenzuwirken, denn ein autoritäres Regime beschränke sich nicht auf den eigenen Wirkungskreis, es werde ausstrahlen auf Städte und Staaten in ganz Europa.

Hoffnung habe Öktem und Yabanci wenig: "Die EU scheint zu gespalten, um einig gegen die Türkei vorzugehen."