Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hat nach dem Flüchtlingsgipfel der Staaten entlang der Westbalkanroute in Wien eine neue "Verteidigungslinie für Europa" gefordert. Diese müsse gezogen werden, wenn es bis Jahresende nicht gelinge, die Schengen-Außengrenzen zu schützen, sagte er am Samstag. Zudem forderte Ungarns Premier ein "gigantisches Flüchtlingslager" an Libyens Küste.

Anders als manche seiner EU-Kollegen wolle er sich im Fall eines weiterhin nicht funktionierenden Schutzes der EU-Außengrenze - wie es aktuell laut Meinung der EU-Kommission auf Griechenland zutrifft - nicht auf den EU-Türkei-Deal verlassen. Wenn dieser scheitere brauche es ein "Notfalldrehbuch" so Orban. Die "Verteidigungslinie" könne dann "nicht an der Südgrenze Griechenlands verlaufen", da Athen bereits bisher gezeigt habe, dass es zu deren Schutz nicht in der Lage sei.

Wo die Schengen-Außengrenze stattdessen gezogen werden solle, darüber habe bei den Teilnehmern des Treffens (Griechenland, Serbien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Albanien, Mazedonien, Kroatien, Slowenien, Österreich und Deutschland) keine Einigkeit gegeben. "Die erste Möglichkeit ist die griechisch-mazedonische, die zweite die mazedonisch-serbische und die dritte die serbisch-ungarische Grenze", so Orban.

Verteidigungslinie nach Österreich nicht ideal

Die Verteidigungslinie an der österreichisch-ungarischen Grenze verlaufen zu lassen, halte er hingegen nicht für eine gute Idee, betonte Ungarns Premier in Anspielung auf Pläne zur Errichtung eines Grenzzaunes im Falle des Erreichens der österreichischen Asyl-Obergrenze von 37.500 Menschen für 2016. Ungarn sei aber sehr wohl bereit, den betroffenen Ländern finanzielle Unterstützung bereitzustellen, sollte es "die Möglichkeit geben, die Verteidigungslinie (weg von Ungarn, Anm.) weiter nach Süden zu verlegen".

Allgemein forderte der ungarische Ministerpräsident "mehr Ressourcen" für Ungarn, aber auch Mazedonien, Bulgarien und Serbien in der Flüchtlingskrise. Diese seien aktuell "unverschämt niedrig", die Gelder aus Brüssel bekämen immer nur Italien und Griechenland, während sein eigenes Land bisher 500 Millionen Euro für den EU-Außengrenzschutz ausgegeben habe.

Erneut wandte sich Orban vor diesem Hintergrund auch gegen Forderungen einer größeren Solidarität durch die Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU. "Ungarn trägt mit dem Grenzschutz zur Solidarität bei", unterstrich der Premier. "Wir dienen damit auch dem Wohle Deutschlands. Wir bitten, dass das anerkannt wird."

Libyen als großes Asylzentrum

Im Falle Italiens, über das aktuell der Großteil der Flüchtlinge Europa erreicht, will Orban die "Verteidigungslinie" in Libyen ziehen. An der dortigen Küste müsse eine "gigantische Flüchtlingsstadt" errichtet werden. Diese sollte über "Schulen und Krankenhäuser" verfügen und müsste von "europäischen Kräften bewacht" werden. Flüchtlinge, die Europa erreichten, sollten nach Libyen zurückgeschickt werden und dort ihr Asylverfahren abwarten müssen.

Ansonsten hat der Flüchtlingsgipfel am Samstag in Wien, zu dem Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) zehn Kollegen aus den Staaten entlang der Balkanroute sowie Deutschland und Griechenland eingeladen hatte, wie erwartet keine konkreten Beschlüsse gebracht. Kern gab sich dennoch optimistisch, ortete er doch erstmals ein gemeinsames Problembewusstsein in den betroffenen Ländern.Tenor des Treffens, zu dem die Regierungschefs aus Ungarn, Slowenien, Kroatien, Serbien, Mazedonien, Bulgarien, Rumänien, Albanien, Deutschland und Griechenland anreisten: Die europäischen Außengrenze müssen besser und effektiver geschützt werden, Schlepper dürfen nicht mehr bestimmen, wer nach Europa kommt.

Balkanroute für immer geschlossen

Bereits zu Beginn des Gipfels machte EU-Ratspräsident Donald Tusk klar, dass die sogenannte Balkanroute "für immer" geschlossen bleiben müsse. Verantwortlich für die Schließung war maßgeblich Österreich, das im Februar ein Treffen in ähnlicher Besetzung wie am Samstag - nur ohne Griechenland und Deutschland - organisiert hatte; dabei wurde der Schritt vorbereitet. Wien wurde damals heftig dafür kritisiert, nicht zuletzt vonseiten Brüssels. Ein halbes Jahr später sagte Tusk nun: "Wir müssen praktisch und politisch sicherstellen, dass die Westbalkanroute für illegale Migration für immer geschlossen ist." Um die Außengrenzen besser zu schützen sei außerdem eine "enge Zusammenarbeit" notwendig.

Ähnlich formulierte auch Kanzler Kern sein Ziel vor Beginn des Gipfels - eine "gemeinsame Linie" sei vonnöten, wenngleich er realistischerweise auch einräumte, dass es schwer sein werde, alle Differenzen "mit einem Paukenschlag" zu harmonisieren. Nach dem Treffen zeigte sich Kern deshalb ob der "langsamen" Entstehung eines gemeinsamen Problembewusstseins erfreut.

Unter anderem sei man sich einig, dass die Unterstützung für die EU-Grenzschutzmission Frontex ausgebaut werden müsse. Auch Griechenland, das nicht wie im EU-Türkei-Deal vorgesehen, syrische Asylsuchende in die Türkei zurückschickt, solle Hilfe zur "Beschleunigung" von Asylverfahren bekommen. Aktuell leidet das Land an einem Mangel an Asylrichtern, zudem wurde die Türkei nie per Gesetz zum sicheren Drittstaat erklärt, weshalb die Justiz Syrern oft Schutz gewährt.

Athen fordert Frontex an

Griechenland hat bereits in der Vergangenheit Unterstützung angefordert. 400 Experten der EU-Asylbehörde EASO wurden laut der griechischen Nachrichtenagentur ANA zugesagt, angekommen seien bisher aber nur 19. Ministerpräsident Alexis Tsipras forderte deshalb mehr Solidarität mit Griechenland. "Es ist inakzeptabel, dass die Last auf das erste Ankunftsland fällt", sagte er nach dem Treffen in Wien.

Dimitris Avramopoulos, aus Griechenland stammender EU-Kommissar für Migrationsfragen, schlug in die gleiche Kerbe: "Solidarität gibt es nicht a la carte. Solidarität und Verantwortungsbewusstsein sind Grundsatzwerte." Er unterstrich, dass alle Mitgliedsstaaten auch rechtlich zur Einhaltung dieser Prinzipien verpflichtet sind. Es handle sich "nicht nur um moralische Werte, sondern auch um juristische Prinzipien, die explizit in den EU-Verträgen enthalten sind", betonte Avramopoulos.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sicherte Griechenland und dem von Migration aus Nordafrika über das Mittelmeer stark betroffenen Italien nach den Gesprächen in Wien weitere Hilfe zu. So werde Deutschland aus diesen Staaten mehrere hundert Migranten mit Bleiberecht pro Monat aufnehmen. Gerade diese Menschen bräuchten eine Perspektive, betonte sie. Aber auch die Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht müsse funktionieren.

Deal mit der Türkei werde eingehalten

Mit einer erneuten Forderung nach dem Ausschluss Griechenlands aus dem Schengenraum ließ der ungarische Premier Viktor Orban aufhorchen. Sollte es bis zum Jahresende nicht gelingen, die Schengen-Außengrenze zu sichern, brauche es eine "neue Verteidigungslinie für Europa", erklärte er. Diese solle entweder an der mazedonisch-griechischen, der serbisch-mazedonischen oder der ungarisch-serbischen Grenze verlaufen und dann eingeführt werden, wenn der EU-Türkei-Deal scheitere.

Das Abkommen der EU mit der Türkei sei aber momentan erfolgreich, versicherte Kern. Wie zuvor bereits bei anderen europäischen Treffen sei deshalb auch über ähnliche Kooperationen mit afrikanischen Ländern gesprochen worden. Der Kanzler nannte dabei Mali, Niger, Ägypten und Senegal als konkrete Beispiele. In punkto Rückführungsabkommen gebe es "große Anzeichen, dass in absehbarer Zeit eine Vereinbarung mit Afghanistan" getroffen werde, meinte Kern unter Berufung auf die EU-Kommission.

Merkel wie Kern räumten ein, bei der eigentlich beschlossenen Verteilung von anerkannten Flüchtlingen innerhalb der EU gebe es keine Fortschritte. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sagte der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", angesichts der Weigerung von osteuropäischen Staaten zur Aufnahme sollten Angebote von diesen zu mehr finanziellem Engagement ernst genommen werden. "Wir sind gut beraten, dieses Angebot anzunehmen."

Demonstration am Rande des Gipfels

Am Rande des Gipfels demonstrierten rund hundert Aktivisten gegen die "Unrechtspolitik" der EU. "Wir wollen das! Wir können das! Wir machen das!" und "Nein zur Festung Europa", skandierten die Teilnehmer der von der "Plattform für eine menschliche Asylpolitik" organisierten Kundgebung hinter dem Wiener Burgtheater. Die Forderung: Das Menschenrecht auf Asyl dürfe nicht der Tagespolitik "geopfert" werden, die Politik müsse für mehr legale Fluchtwege sorgen.

Begleitet wurde das hochkarätig besetzte Treffen von scharfen Sicherheitsvorkehrungen. So waren etwa Teile der Wiener Innenstadt seit den frühen Morgenstunden abgesperrt. Im Bereich des Minoriten- und Ballhausplatz sowie beim Volksgarten wurde ein Platzverbot erlassen. Bei der Ankunft der Regierungschefs kreiste ein Hubschrauber über der Hofburg, auf den Dächern des Bundeskanzleramtes sowie der Präsidentschaftskanzlei waren Scharfschützen positioniert.