Wahlen in Russland sind paradox - das gilt auch für die Parlamentswahl am Sonntag. Wahlen dürfen nichts an der Herrschaft von Präsident Wladimir Putin über das größte Land der Erde ändern. Von der Zusammensetzung des Parlaments hänge in einem autoritären Land wie Russland wenig ab, fasste die oppositionelle Zeitung "Nowaja Gaseta" das Paradox zusammen: "Aber von den Wahlen hängt viel ab."

Die Parlamentswahl ist die erste seit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014, die Putins Popularität auf Zustimmungswerte von mehr als 80 Prozent getrieben hat. Doch es ist auch eine Wahl in einer tiefen Wirtschaftskrise, verursacht durch fehlende Reformen, niedrige Ölpreise und westliche Sanktionen. Die Kremlpartei Geeintes Russland, geführt von Ministerpräsident Dmitri Medwedew, will ihre Macht verteidigen und muss doch Unmut der Bürger fürchten.

Wahlfälschungsvorwurf 2011

Die Staatsmacht hat noch zwei andere Wahlen im Kopf, die den jetzigen Urnengang überschatten. Nach der Parlamentswahl 2011 warf die Opposition den Behörden Wahlfälschung vor, es gab die bisher heftigsten Proteste gegen Putin. Solche Unruhe will der Kreml diesmal ausschließen. Außerdem steht 2018 die Präsidentenwahl bevor, bei der Putin absehbar wieder antreten wird. Die Wahl der Staatsduma, des Unterhauses im russischen Parlament, soll dafür als Probelauf dienen.

Auf die Unruhen von 2011 hat der Kreml mit verschiedenen Mitteln reagiert. Wahlleiter Wladimir Tschurow, der mit dem Spitznamen "Der Zauberer" die gewünschten Resultate lieferte, wurde abberufen. Nun soll die angesehene frühere Menschenrechtsbeauftragte Ella Pamfilowa dafür sorgen, dass die Abstimmung ohne Fälschungen verläuft.

Neue Wahlgesetze stärken kremltreue Parteien

Zugleich stärkten neue Wahlgesetze die großen kremltreuen Parteien. Die 450 Abgeordneten werden erstmals seit 2003 wieder nach gemischtem Wahlrecht gewählt - 225 nach Listen, 225 in Wahlkreisen. Doch in vielen Wahlkreisen wurden Großstadtviertel - für die Führung eher ein schwieriges Pflaster - mit ländlichen Gebieten zusammengelegt, in denen die Bewohner linientreu wählen. Kleine Parteien mussten hohe bürokratische Hürden überwinden, um überhaupt zugelassen zu werden.

"Nur die "Großen Vier" haben eine reelle Chance, die Fünfprozenthürde zu überwinden und Sitze in der Duma zu gewinnen", analysiert der Politologe Nikolaj Petrow. Gemeint sind Geeintes Russland, die Kommunisten, die gemäßigt linke Partei Gerechtes Russland und die nationalistischen Liberaldemokraten. Doch so verschieden die Namen klingen, stehen diese Parteien dem Kreml seit Jahren treu zur Seite.

Wo die Wahl derart von oben gesteuert wird, gewinnen kleine interne Verschiebungen große Bedeutung. Welche Regionen können der Führung besonders gute Resultate liefern? Laufen Wähler aus Protest gegen die soziale Lage zu den Kommunisten über?

Aufsehen erregte Anfang September eine Umfrage des weitgehend unabhängigen Lewada-Zentrums, dass die Zustimmung zu Geeintes Russland binnen eines Monats von 39 auf 31 Prozent gesunken sei. Tage später stufte das Justizministerium das Zentrum als "ausländischen Agenten" ein. Der Kampfbegriff brandmarkt Organisationen, die Geld aus dem Ausland bekommen, und erschwert ihnen die Arbeit in Russland.

Putin-Gegner zersplittert

Die Opposition kann in dieser Lage nur hoffen, einzelne Mandate zu gewinnen. Den Putin-Gegnern fehlen zugkräftige Namen. Sie sind zersplittert: Die liberalen Parteien Jabloko und Parnas konnten sich nicht auf eine gemeinsame Liste einigen. Die Kandidaten litten unter hinterhältigen Angriffen. Ex-Regierungschef Michail Kasjanow, Spitzenkandidat bei Parnas, wurde mehrfach mit Farbe beworfen und im Fernsehen mit einem landesweit ausgestrahlten Sexvideo diskreditiert.

Die wenigen oppositionellen Medien versuchten, gegen die verbreitete Wahlmüdigkeit anzukämpfen. "Jeder einzelne, der nicht zur Wahl geht, sagt damit, dass er mit allem einverstanden ist", schreibt der Blogger Dmitri Tschernyschew. Auch der populäre Schriftsteller Boris Akunin ruft dazu auf, trotz allem wählen zu gehen: "Faktisch ist das eine Umfrage über die Einstellung der Bevölkerung zum derzeitigen Regime." Diese Umfrage sollten die Bürger zu einem Misstrauensvotum nutzen.