Im Zuge der türkischen Bodenoffensive im Norden Syriens sind am Sonntag offenbar dutzende Zivilisten getötet worden. Nach Angaben von Aktivisten wurden bei Angriffen auf zwei Dörfer mindestens 40 Zivilisten getötet, ein Kurdenvertreter sprach von 75 Toten. Die türkische Regierung erklärte dagegen, es seien 25 kurdische Kämpfer getötet worden.

Unterschiedliche Angaben

Nach Angaben der "Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte" mit Sitz in Großbritannien wurden bei türkischen Luft- und Artillerieangriffen auf das Dorf Jeb al-Kussa mindestens 20 Zivilisten getötet, bei Angriffen in der Nähe des Orts al-Amarneh starben demnach weitere 20 Zivilisten. Zudem seien vier Rebellenkämpfer getötet worden. Die Angaben der Beobachtungsstelle, die sich auf ein Netzwerk von Informanten in Syrien beruft, sind schwer überprüfbar. Ein Sprecher der örtlichen Kurdenverwaltung nannte die Zahl von insgesamt 75 getöteten Zivilisten in beiden Dörfern.

Die türkische Armee dagegen sprach laut der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu von "25 getöteten Terroristen" der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ihrer syrisch-kurdischen Verbündeten PYD. Die Armee tue alles, um zivile Opfer zu vermeiden.

Die beiden angegriffenen Orte liegen wenige Kilometer südlich des Grenzortes Jarablus, den protürkische Rebellen am Mittwoch mit Hilfe der türkischen Armee von der Jihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) zurückerobert hatten. Die Türkei hatte am selben Tag ihre Offensive "Schutzschild Euphrat" gegen die IS-Miliz in Syrien gestartet. Mit ihrer Hilfe wollen die protürkischen Rebellen seitdem acht weitere Städte und Dörfer aus der Hand des IS und kurdischer Kämpfer erobert haben.

Als Terrorgruppe eingeschätzt

Der türkische Einsatz richtet sich auch gegen die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihren bewaffneten Arm, die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG). Die türkische Regierung betrachtet diese als syrischen Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und somit ebenfalls als Terrororganisationen.

Ankara will eine Ausweitung des Kurdengebiets entlang der türkischen Grenze stoppen und wirft der YPG-Miliz vor, sich nach ihrem Vormarsch nicht wie versprochen wieder hinter den Euphrat zurückgezogen zu haben.

Als die türkischen Panzer am Samstag weiter in Richtung Amarneh vordrangen, kam es erstmals zu Gefechten mit kurdischen Rebellen und deren örtlichen Verbündeten. Dabei wurden nach Angaben türkischer Medien zwei Panzer von Raketen getroffen, ein türkischer Soldat wurde getötet. Als Reaktion flog die türkische Luftwaffe erstmals seit Beginn der Offensive Luftangriffe auf kurdische Stellungen in der Region.

Erdogan-Rede in Gaziantep

Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Sonntag, sein Land werde alles tun, um den IS aus Syrien zu vertreiben und habe "dieselbe Entschlossenheit" gegen die PYD. "Wir werden keinerlei terroristische Aktivitäten an oder in der Nähe unserer Grenzen dulden", sagte der türkische Staatschef bei einer Rede in Gaziantep im Südosten der Türkei. In Gaziantep nahe der Grenze zu Syrien waren bei einem Anschlag auf eine Hochzeit am vergangenen Wochenende mehr als 50 Menschen getötet worden. Ankara zufolge trägt der Anschlag die Handschrift des IS.

Die türkische Offensive im syrischen Grenzgebiet verkompliziert zusätzlich die Lage in dem Bürgerkriegsland, in dem die UNO, Russland und die USA bisher vergeblich um eine Lösung rangen. Die USA sehen in der YPG einen verbündeten im Kampf gegen den IS. Am Freitagabend einigten sich US-Außenminister John Kerry und sein russischer Kollege Sergej Lawrow grundsätzlich auf Schritte zu einer Waffenruhe in Syrien.