Addis Abeba. Kräne ragen wie riesige Störche aus der Stadt. Neun Millionen Menschen leben hier, sagt eine alte Statistik. Wahrscheinlich sind es viel mehr. Wellblechhütten weichen Baugruben. Die hier wohnten, für die stampft die Regierung am Stadtrand Gemeindebauten aus dem Boden. Das neue Brüssel, wie sich Äthiopiens Hauptstadt als Sitz der Organisation Afrikanischer Einheit gerne nennt, möchte vergessen, dass es auch die Hauptstadt eines der ärmsten Länder Afrikas ist.

130 Kilometer südlich von Addis Abeba ist vom Boom nichts mehr zu spüren. Abseits der Hauptstraße ausgeschwemmte Rüttelpisten,  ausgemergelte kleine Pferde und Esel ziehen Holzkarren, Kinder balancieren orange Wasserkanister auf dem Kopf nach Hause

Der Geländewagen hält in Kertafa. Hier hat die Regierung ein „Veterinärzentrum“ aufgemauert, grün und lila steht das leere Haus in der stacheldrahtumzäunten Wiese. Ein paar Lehmhütten ducken sich in der Nachbarschaft, Ziegen grasen davor, eine Vorderpfote zusammengebunden, damit sie nicht die Äcker abfressen können. Blaugrün schillernde Vögel picken Halme.

Esel sind für reiche Leute

Kedija Ferde wohnt nur fünf Minuten von hier, Gehminuten. Einen Eselskarren besitzt sie nicht, das ist für wohlhabendere Leute. Heute ist sie hergekommen, weil sie auf Hilfe hofft. Zwei Jahre Trockenheit hielten selbst ihre zähen Ziegen nicht aus, der Mais für ein Jahr Leben verdorrte auf dem Feld. Dass jetzt alles grün ist im Land, macht die Ausfälle der Vorjahre nicht wett. Viele Bauern mussten ihr Saatgut essen, um durchzukommen. Tiere, die nicht verendet sind, endeten dann am Markt, um mit dem Erlös Essen zu kaufen. Die Regierung hat sehr spät um internationale Hilfe gerufen. Jetzt sind die Dürreopfer notversorgt, aber wie soll es weitergehen ohne Saatgut, ohne Tiere?

Hier, in Kertafa, gibt es beides zur Auswahl. Kedija Ferde musste sich entscheiden - Vieh oder Saatgut? Sie wählte Vieh. Drei junge Ziegen konnte sie erhandeln mit den 2800 Birr, die man ihr gab, das sind nicht ganz hundert Euro. Die Mittel stammen von der Austria Development Agency (ADA), der Entwicklungshilfeorganisation des Außenministeriums, und von Spendern der Caritas.

Fünf Ziegen gaben ihrer Familie vor der Dürre Milch, mit den Dreien kann sie neu beginnen. Kedija Ferde hat sie selber auf dem Markt ausgesucht, vom staatlichen Veterinär untersuchen und impfen lassen. Bald gibt es junge Ziegen. Die kann Kedija verkaufen, das bringt wieder etwas Geld. Frierend, aber zufrieden sitzt die Mutter unter den ausladenden Ästen des Baumes vor der Veterinärstation, nestelt an ihrem blütenbedruckten Wickelkleid und lässt sich bereitwillig fotografieren.

Fragen nach dem Alter gehen ins Leere

Wie alt sie ist, kann Frau Ferde nicht sagen. Fragen nach dem Alter gehen in Äthiopien oft ins Leere. Was denn ihr Mann macht? Der sitze am liebsten im Ort, rauche oder kaue Chat, die wichtigste Droge im Land. Seine Frau erzählt das ohne Bitterkeit, es ist einfach so. Sie wird nicht die einzige sein, die damit leben muss. Den 0,75 Hektar kleinen Acker muss sie selbst bestellen, die Kinder versorgen sowieso. Ihr Mann hat die Tiere geweidet. Seit der Trockenheit fiel auch diese einfache Arbeit weg - die Tiere sind tot. Vielleicht hat sich Frau Ferde ja deshalb für die Ziegen entschieden – um den Mann wieder sinnvoll zu beschäftigen.

Früher ist die Dürre ungefähr alle fünf Jahre gekommen, jetzt öfter, sagt sie. Und der Regen bleibt länger aus. „Wenn es regnet, dann heftiger als früher, wäscht uns die Flut die Saat aus der Erde“, erzählt sie. Ausgewaschene, von tiefen Furchen durchzogene Äcker säumen die Straßen überall im Land. Unterhöhlte und schrundige Erdwege bezeugen, mit welcher Wucht die Wassermassen hier alles mit sich reißen, was die Trockenheit nicht verklumpt hat. „Es ist nicht normal“, sagt Frau Ferde. „Das Klima ändert sich“.

Früher war es leichter für die Familie, auf Dürre zu reagieren. „Ich konnte Feuerholz schneiden gehen und es verkaufen“, erzählt sie. „Jetzt bin ich zu alt dafür“. Drei ihrer Kinder sind verheiratet, bleiben immer noch neun Leute im Haus, die ernährt werden wollen. In letzter Zeit sieht es besser aus. Es hat geregnet, der Mais steht kniehoch. Aber bleibt das so? Hält die Regenzeit aus? Wenn es so bleibt, gibt es im September  Maiskolben in Hülle und Fülle, später dann, getrocknet und gestoßen, Maismehl.

Einkünfte eines Tages: nicht ganz ein Euro

Was die Familie sonst noch braucht, verdient sich Frau Ferde im nahen Bulbulla. Sie leiht sich Geld von einem reichen Mann, den sie kennt, kauft davon Mais und bringt ihn zu etwas höherem Preis auf den Markt, der einmal in der Woche alle ins Dorf lockt, erzählt sie. Der Überschuss, 20 Birr, also nicht ganz ein Euro, muss für die Einkäufe einer Woche genügen: Salz, Zucker, Öl. Passieren darf da nichts.

Zum Verkaufen bleibt von der Ernte nichts. Frau Ferde ist Subsistenzbäuerin, so nennt das die Wissenschaft abstrakt. Vier von fünf Äthiopiern leben so, von der Hand in den Mund. Jede klimatische Unregelmäßigkeit bringt das Gleichgewicht dieses Lebens ins Wanken. Da hilft Schulbildung auch nicht. Vier ihrer Kinder haben eine höhere Schule absolviert. Nun finden sie keine Arbeit und leben wieder bei ihr. Was wäre ohne die Ziegen?

Die Starkregenfälle fräsen auch in Gallo Repea tiefe Risse ins Land. „Das Land war übergrast“, erzählt Yetenayet Thomas, die schon seit 14 Jahren in der Diözese Meki für die Caritas arbeitet. Allmende nennt man solche Flächen bei uns, allen zugängliche Gemeindeweiden. Die Hirten von Gallo Repea ließen ihr Vieh dort so lange grasen, bis die kahlen Hänge das Wasser nicht mehr aufnehmen konnten. Regen riss das Erdreich zu Tal, in Trockenzeiten verwehte es der Wind. Die Bäume, die vor ein paar Jahren noch den ganzen Hügel bedeckt hatten, Bauern holzten sie ab, brannten sie zu Holzkohle oder buken ihr Fladenbrot mit ihnen. Alles ganz normal, solange es nicht zu viel wird. In Gallo Repea aber wurde es zu viel.

Was man gegen Erosion tun kann

ADA und Caritas hatten eine Idee. Das Vieh darf ein paar Jahre hier nicht grasen, in der Zwischenzeit müssen die Kräftigen im Dorf Kanäle quer zur Hangrichtung graben, damit das Wasser nicht abrinnt, sondern versickert. Bäume pflanzen hilft auch. Aber wie erklärt man das Menschen, die seit Jahrhunderten nur zu nehmen gewohnt waren, was da war, im Überfluss da war?

Die örtlichen Mitarbeiter der Caritas gründeten also zwei Genossenschaften, eine mit 21 Dorfbewohnern, die andere mit 23. Sie drückten den Männern Schaufeln in die Hand und zeigte ihnen, wie die Gräben aussehen sollten. Seit 2014 verhindern die Hirten mit ihren Stöcken, dass Tiere auf der Gemeindeweide grasen. An einen Zaun ist nicht zu denken. Stolz sitzen sie nun in einem ihrer neuen Gräben und warten auf die Besucher, die ihre Arbeit sehen wollen.

„Ich habe noch Fotos, wie es vor zwei Jahren hier ausgesehen hat“, erzählt Yetenayet Thomas, die das Projekt betreut. „Alles braun.“ Heute wachsen kleine Bäumchen, von den Bauern gepflanzt, das Grabensystem bewässert rasch wachsendes Buschwerk. Tesa Lenjiso, mit 70 der Dorfälteste von Gallo Repea, über dessen Hütte Hochspannungsdrähte surrend Strom in die boomende Hauptstadt bringen, erklärt die Wirkung der aufwendigen Operation schlicht: „der Wind weht nicht mehr so trocken durchs Dorf“. Das Mikroklima hat sich nach zwei Jahren schon gebessert. Und weil die Bauern in der Genossenschaft auch gelernt haben, Bienen zu züchten, wird es bald Honig geben. „Echt bio“, sagt Frau Thomas.

Hilfe für unterernährte Kinder

In Kurfasawa, einem Dorf an der Ostgrenze Äthiopiens zu Somalia, arbeitet Foziya Malim Ahamed für die Caritas. Sie sitzt im „Gesundheitsposten“ des Orts, zwei Zimmer, ein Vordach. Hier versuchen Hilfsorganisationen, gemeinsam mit der Regierung  für unterernährte Kleinkinder und Schwangere zu sorgen.

Vor Foziya sitzt Fatuma Ahmed Ibrahim, den dünnen Hassan Ali Seid im Arm. Er ist ihr jüngstes Kind, das zehnte, das die 32jährige zur Welt gebracht hat. Foziya zückt ein Maßband, legt es dem Kleinen um den Oberarm und zieht es zusammen, wie sie es immer macht. Kommt sie bis zur roten Farbe, ist das Kind schwer unterernährt. Dann gibt es zwei Monate lang Nahrungsergänzungsmittel, Proteine, Vitamine, auch einen Liter Öl  im Monat und 6, 25 Kilo Getreide, damit das Kind wieder zu Kräften kommt. Hassan braucht Hilfe. Mitarbeiter von Islamic Relief, neben Caritas und ADA eine der großen Hilfsorganisationen, die bis zu diesem entlegenen Ort vorgestoßen sind, legen gerade Getreidesäcke und Ölkanister vor dem Speicher in die Sonne, zur Verteilung.

Frau Ibrahim wohnt gleich hinter dem Gesundheitsposten. Ihre Hütte besteht aus Stangen, die einfach in der Erde stecken. Drinnen stehen wir auf gestampftem Erdboden, der Ofen raucht im Eck, eine Trennwand grenzt den Schlafraum ab. Schwarzes Plastik überspannt die Hütte, bunte Stofftücher schmücken die Außenwände der vielleicht drei mal vier Meter großen Behausung. Seit 20 Jahren lebt die Familie hier. Manches ist besser geworden. Eine Pipeline bringt Wasser in den Ort. Ein paar hundert Meterneben der Hütte bauen die Chinesen die Bahnstrecke Addis-Dschibouti neu. Die alte, von Italienern und Franzosen vor über hundert Jahren errichtet, hat schon lange ausgedient.

Die Kinder haben schon gewartet auf die Mutter mit dem Kleinen. Auch Großmutter Kadija Kalidelle stellt sich dazu, wegen der Fotos. Als sie ihr Alter mit vierzig angibt, muss die Tochter lachen. Also einigt man sich auf 52, aber so genau weiß das niemand.

Landau: "Dann haben wir versagt"

Der kleine Hassan Ali Seid, der einzige Sohn der Familie, ist kein Einzelfall in Äthiopien. Die Trockenheit hat ein Problem verschärft, das auch in guten Zeiten etwa ein Drittel der Kinder betrifft. Jetzt sind es doppelt so viele. Unterernährung von Kleinkindern hat Langzeitfolgen, wenn nichts geschieht. Die Kinder bleiben zurück, körperlich, geistig. Ein zerstörtes Leben, wenn es denn über die Kindheit hinaus dauert. Die Regierung spricht davon nicht gerne. Auf dem Rückweg werden wir aufgehalten, sollen die Bilder löschen. Sie zeigen das falsche Äthiopien.

Michael Landau besucht die Projekte der Caritas in Äthiopien zum ersten Mal. Still beobachtet der Caritas-Präsident seine Mitarbeiterin, die gerade den dürren Oberarm der einjährigen Nefisa vermisst, bis das Rote auf dem Maßband sichtbar wird. Leise sagt er: „Wenn wir es heute nicht schaffen, dass niemand mehr verhungern muss, dann haben wir versagt. Alle.“