Ihre Anhänger feierten den Sieg mit großem Jubel und Feuerwerk. Die bisher regierende Kuomintang, deren Politik als chinafreundlich kritisiert worden war, erlitt die schwerste Niederlage in ihrer Geschichte. In seiner Rede kündigte Chu seinen Rücktritt als Vorsitzender an. Seine Partei habe auch erstmals die Mehrheit im Parlament verloren. Weit abgeschlagen lag der dritte Kandidat James Soong von der kleinen Volkspartei (PFP).

Der Wahlsieg der Vorsitzenden der Fortschrittspartei, die ihre Wurzeln in der Unabhängigkeitsbewegung hat, könnte den sechs Jahrzehnte alten Konflikt mit der Führung in Peking neu entfachen. Die Kommunisten betrachten Taiwan nur als abtrünnige Provinz und drohen mit einer gewaltsamen Rückeroberung. Eine Reaktion aus Peking lag zunächst nicht vor.

Die Folgen des Wahlsiegs werden auch in den USA aufmerksam verfolgt. Ein Konflikt würde die ohnehin komplizierte Lage in der Region verschärfen, in der Chinas umstrittene Ansprüche auf Inselgruppen erhebt. Washington unterstützt Taiwan mit Waffenlieferungen und lehnt eine gewaltsame Änderung des Status quo ab.

Anders als ihr Vorgänger Ma Ying-jeou, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten durfte und zuletzt höchst unpopulär war, will die neue Präsidentin eher auf Distanz zu Peking gehen und die Eigenständigkeit Taiwans betonen. Ihre Fortschrittspartei führte auch bei der Auszählung der Stimmen für das Parlament, wo die Kuomintang selbst während der DPP-Präsidentschaft des Unabhängigkeitsbefürworters Chen Shui-bian von 2000 bis 2008 die Mehrheit inne gehabt hatte.

Wahlberechtigt waren 18,7 Millionen Taiwanesen. Unter ihnen waren 1,29 Millionen junge Erstwähler, die eine wichtige Rolle gespielt haben dürften. Während die Beziehungen zwischen Peking und Taipeh für das Ausland im Fokus stehen, stand für die Taiwanesen die schlechte Wirtschaftslage im Vordergrund.

Das Wachstum der fünftgrößten asiatischen Volkswirtschaft lag 2015 unter einem Prozent. Die Realeinkommen sind seit mehr als zehn Jahren nicht gestiegen. Viele Taiwanesen beklagen, das die Früchte der stark gewachsenen wirtschaftlichen Kooperation mit Festlandchina nicht bei ihnen ankommen. Auch fürchten sie die wachsende Abhängigkeit von China und dessen Einfluss in Taiwan.

Die als moderat geltende Oppositionskandidatin versicherte den 23 Millionen Taiwanern, am Status quo festzuhalten und eine berechenbare Politik zu verfolgen. Als Präsidentin will sie aber die Handelskontakte zu anderen Ländern ausbauen und die Innovation der Industrie fördern. Auch stellte sie bezahlbaren Wohnraum, eine Abkehr von der Atomkraft und den Ausbau erneuerbarer Energien sowie die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare in Aussicht.