Ouff! In „meiner“ Gemeinde Plougonvelin im äußersten Westen der Bretagne, wo wir, meine Frau, ich und unser Sohn, vier Jahre gewissermaßen als österreichische Exoten adoptiert lebten, ist der erste Wahlgang zu den „Présidentielles“ halbwegs so vernünftig ausgegangen, wie ich es meinen dortigen Freunden zutraute: Macron 30 Prozent, Fillon 25, Mélenchon 15, Le Pen 12 Prozent. Nein, sie waren nicht „lechts oder rinks“, meine einstigen Mitbürger, sondern französische und bretonische Patrioten und sind daher Europäer geblieben. Wohl „konservativer“, noch katholischer waren sie als etwa die Osttiroler, aber weltoffen; der Atlantik direkt vor ihrer Haustür hat ja keine Grenzen.

Oh, ma France, ma douce France … Meine zweite sprachliche und kulturelle Heimat, sie leidet; sie ist zutiefst verwundet und seit 1789 weiß sie nicht mehr recht, wohin sie sich wenden soll. „Frankreich ist mir immer erschienen wie eine Madonna in unseren Kathedralen“, schreibt der General de Gaulle in der Einleitung zu seinen Kriegsmemoiren, als er anfangs ganz allein, ganz auf sich und seinen Glauben an Frankreich gestellt, 1940 von Radio London aus seine Landsleute zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Okkupation aufrief. Zum Emblem der Résistance wählte er das Lothringer Kreuz. Kurz zuvor hatte das mehrheitlich „linke“ Volksfrontparlament den „rechten“ Maréchal Pétain zum Staatschef gewählt, der dann schlotternd vor Hitler den Kotau machte, hatte eine „linke“ Intellectuaille für die Kollaboration mit Nazi-Deutschland optiert (ein moralisches Schlaucherl wie Jean-Paul Sartre konnte in aller Behaglichkeit seine „linken“ Dramen unter deutschem Wohlwollen in Paris uraufführen lassen). Führende Vertreter der „linken“ französischen „Friedensbewegung“ trieben es mit ihrer Friedensliebe so weit, dass sie sich alsbald in den faschistischen Milizen Pétains wiederfanden und dort die Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus gnadenlos verfolgten und der SS auslieferten; hatte doch der damals noch mit Hitler verbündete Stalin französischen Kommunisten streng untersagt, gegen die deutsche Okkupation aktiv zu werden …

Eine blutige Geschichte

„Rinks und lechts“ kann man leicht „velwechsern“, schrieb Ernst Jandl, zumal in der jüngeren Geschichte Frankreichs trifft das kluge Wortspiel zu. Warum? Vermutlich weil das vermeintliche Gegensatzpaar als eineiige Zwillinge aus ein und demselben Schoß gekrochen ist, und laut Bertolt Brecht ist er „fruchtbar noch“, dieser Schoß.
Die Französische Revolution hatte beides geboren: einerseits einen verrückten Nationalismus, inklusive Unterdrückung (und Auslöschung) jeder „Minderheit“ sprachlicher oder kultureller Natur zugunsten einer fiktiven „volonté générale“, einem allgemeinen „Volkswillen“; Letzteren zu definieren oblag dann allmächtigen Funktionären. Vergessen wir nicht, dass 1792/1793 der erste Völkermord der neueren Geschichte auf mehrheitlichem Parlamentsbeschluss (!) an den Bevölkerungen der Vendée und der südlichen Bretagne vollzogen wurde. An die 300.000 Opfer waren das Resultat. Als sich die Stadt Lyon gegen die Willkür des Pariser Konvents zur Wehr setzte, dekretierte dieser, Lyon „auszulöschen“ , umzuackern und eine Säule mit der Inschrift aufzurichten „Lyon erhob sich gegen die Freiheit, Lyon existiert nicht mehr“. Eine „völkische“ Aktion, deren Blutrinne sich im Faschismus und im Nationalsozialismus zum Strom erweiterte. „Lechts“ oder „rinks“?
Andrerseits gebar die Revolution die Ideologie der totalen, totalitären „Gleichheit“ unter Vernichtung jeglichen Privatlebens, nicht zuletzt der Familie als organischer Institution. Eine Vision, welche endgültig zu verwirklichen später Lenin, Stalin, Mao und Pol Pot angetreten sind. „Rinks“ oder „lechts“?

Auf ihrem Höhepunkt strebte die Revolution den absoluten Bruch mit der französischen Geschichte und Kultur an, den Bruch vor allem mit der Tradition, in der Frankreich sich seit der Taufe des Frankenhäuptlings Chlodwig anno 498 als „älteste Tochter der Kirche“ betrachtete. Gerade dem Christentum galt der Hass der revolutionären Ideologen: Man setzte eine Schauspielerin als „Göttin der Vernunft“ auf den Hochaltar von Notre-Dame de Paris, und Robespierre erfand dazu gleich eine neue neoheidnische Religion mit neuem Kult, neuem Kalender und neuer Zeitrechnung. Tausende Priester und Gläubige wurden ermordet. Keine Rede mehr von den anfangs pompös verkündeten Menschenrechten; deren Verfechter endeten zumeist unter der Guillotine.
Der ursprünglich „linke“ Napoleon unternahm dann den Versuch, den Abgrund zwischen dem traditionellen Frankreich irgendwie zu überbrücken, allerdings mit sehr mäßigem Erfolg. Das ganze französische 19. Jahrhundert ist eine geradezu groteske Abfolge von Revolutionen und Reaktionen, von Restaurationen und Republiken: 1815, 1830, 1848. Auch der zunächst ideologisch „linke“ Napoleon III. probierte erfolglos eine Art Ausgleich; er wurde 1871 nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg gestürzt. Die „Dritte Republik“ agierte zuweilen mit sektiererischer Abneigung gegen die Kirche, vermochte sich freilich im Ersten Weltkrieg zu behaupten, bis sich die „Volksfrontregierung“ als sowohl unwillig als auch unfähig erwies, dem nationalsozialistischen Deutschland zu widerstehen.

Der General de Gaulle allein vermochte in einer enormen moralischen Kraftanstrengung Frankreich einen Ausweg zu weisen, eine Hoffnung ohne nachhaltiges Ergebnis. Dafür wurde er von den „nationalen“ Erben des faschistischen Pétain-Regimes als „Linker“ und von den „Linken“ (Sartre & Co) als „Faschist“ beschimpft. Ich erinnere mich, als ich vor zwanzig Jahren auf dem Ulrichsberg in Kärnten eine unheimliche Begegnung hatte. Man hatte mich als Reporter zu der fragwürdigen Feier dortselbst geschickt. Plötzlich erschien da eine Gruppe Franzosen, die das Andenken de Gaulles unflätig beschimpften: „Dieses Schwein …“ Die Burschen erklärten, sie seien von Jean-Marie Le Pen als Delegation zum „Kameraden Jörg Haider“ entsendet worden; und überhaupt, sie wollten auf dem Ulrichsberg der französischen SS (Division Charlemagne) gedenken. „Rinks“ oder „lechts“? Dazu fügt sich, dass Jean-Maries Tochter Marine heute mit ultralinken Parolen um die Wähler buhlt und den eigentlich „linken“ Kandidaten Macron als „rechten“ Kapitalistenknecht diffamiert …

Wohin sollen sie sich wenden, jene Millionen Franzosen, die den fatalen Bruch mit der französischen Geschichte innerlich nie vollzogen haben? Menschen, denen der heilige Ludwig, Jeanne d’Arc oder die Märtyrer der Résistance ein unverzichtbarer Teil der Identität geblieben sind, hätten, so sagt man, heute die „Wahl zwischen Pest und Cholera“, zwischen Marine Le Pen und Emmanuel Macron. Was aber so nicht ganz zutrifft; sie haben die Wahl zwischen dem größeren und dem kleineren Übel. Marine Le Pen würde den Bruch Frankreichs mit seiner Tradition nahezu unheilbar machen und das Land für Generationen in einer „rinks-lechten“, „völkischen“ Isolation einsperren, wie das ja auch während der Revolution der Fall war. Für ganz Europa ein historischer Super-GAU. Macron hingegen mag „farblos“ sein, aber eine Gefahr für Land, Leute und den Kontinent geht von ihm nicht aus. Also: Es lebe das kleinere Übel! Vive ma douce France!