Als ich am Samstag gegen halb zehn Uhr vormittags in den Tempel ging, erkannte ich die Stadt nicht mehr. Von jedem Hause flatterten die Hakenkreuzfahnen, ja jedes Fenster war bespickt mit Hakenkreuzfähnchen und ich fragte mich und frage mich noch heute, wie konnte man in so kurzer Zeit so viele Fahnen anfertigen? Es ist nur so zu erklären, dass bereits seit Langem das alles vorbereitet gewesen ist. Es ist darum töricht zu sagen, Österreich sei überrumpelt worden.

In Wirklichkeit war der größte Teil nicht um ein Jota besser, als die Reichsdeutschen. Was aber das Interessanteste an der ganzen Sache ist, dass die meisten Hitler darum so begeistert aufnahmen, weil er antisemitisch gewesen ist und weil man dachte, es ist wieder eine ,Gaudi‘, den Juden etwas auszuwischen. Im Gotteshause war eine furchtbar gedrückte Stimmung. Im großen Tempel waren in der Nacht die meisten der wundervollen, von bedeutenden Künstlern geschaffenen Fenster, wahre Perlen der Künste, mit mehreren kiloschweren Steinen eingeworfen worden. Es war gefährlich geworden, dort zu beten. Denn jeder Halunke, der vorbeikam, holte sich von einem Steinhaufen, den man, wie ich jetzt weiß, schon einige Tage vorher vor den Tempel schaffte, nicht um die Straße auszubessern, sondern um die Tempelfenster einzuschlagen und das Beten dort unmöglich zu machen, einen Stein.“

Der Grazer Rabbiner David Herzog schrieb seine Erfahrungen des „Anschluss“ im englischen Exil, wohin er 1939 nach Monaten der Demütigung und Qualen fliehen konnte, nieder. Er schuf damit das wohl eindrücklichste Dokument über die Zerstörung der Grazer jüdischen Gemeinde durch lokale Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten. Diese zerstörten in nur wenigen Monaten zwischen März 1938 und Sommer 1939 mit Brutalität, Skrupel- und ungeheurer Rücksichtslosigkeit die bis dahin blühende jüdische Gemeinde. Angetrieben von einem tief in den Köpfen und Herzen verwurzelten Antisemitismus, von Habgier und Niedertracht wurden die jüdischen Steirerinnen und Steirer vollständig beraubt und aus ihrer Heimat vertrieben.

Jüdische Bürger müssen die Straße „säubern“.
Jüdische Bürger müssen die Straße „säubern“. © (c) Scherl / SZ-Photo / picturedesk. (Scherl)

Die Nationalsozialisten setzten damit in kurzer Zeit einen Schlusspunkt unter die moderne jüdische Geschichte der Steiermark. Ihre Anfänge hatte diese im Josephinischen Zeitalter, als sich nach beinahe 300 Jahren, seit der Ausweisung durch Kaiser Maximilian I. im Jahr 1496, Jüdinnen und Juden ab 1783 zunächst temporär für die Zeit der Jahrmärkte und ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder längerfristig in Graz niederlassen konnten. 1863 wurde eine erste jüdische Gemeinde und 1869 die Israelitische Kultusgemeinde gegründet.

Im Laufe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entwickelte sich ein vielfältiges jüdisches Leben mit Graz als Zentrum. In Graz wurde 1892 eine repräsentative Synagoge mit angrenzendem Amts- und Schulgebäude errichtet und in Leoben und Judenburg gab es ebenfalls eigene Beträume. Innerhalb der Vereine wie auch der Einrichtungen der jüdischen Gemeinde vollzog sich das religiöse und kulturelle Leben der Jüdinnen und Juden, die sich trotz eines immer vorhandenen Antisemitismus stets als Steirerinnen und Steirer verstanden. Bei der letzten Volkszählung vor dem „Anschluss“ gaben in der Steiermark 2195 Personen (1720 in Graz) an, jüdisch zu sein.

Auf Basis von vorbereiteten Listen erfolgten nach dem „Anschluss“ Verhaftungen, davon betroffen waren auch Vertreter der Kultusgemeinde, der jüdischen Vereine sowie bekannte Persönlichkeiten, wie Nobelpreisträger Otto Loewi, der Rechtsanwalt Ludwig Biró oder Landesrabbiner David Herzog. Mit diesen gewaltsamen Übergriffen, die von einer breiten Berichterstattung in den Zeitungen begleitet worden waren, wurde allen Menschen in der Steiermark klargemacht, dass es für Jüdinnen und Juden in der Steiermark keine Zukunft geben kann. Auf den Punkt brachte das der Geschäftsführer des Landesfremdenverkehrsverbandes, Historiker und Autor, Robert Baravalle, in einem Leitartikel in der „Tagespost“ im Juli 1938 mit dem Titel: „Juden hinaus“.

„Stolpersteine“ für 27 ehemalige jüdische Schüler des Grazer Oeverseegymnasiums.
„Stolpersteine“ für 27 ehemalige jüdische Schüler des Grazer Oeverseegymnasiums. © (c) Alexander Danner

Darin schrieb er: „Die Langmut des deutschen Volkes gegen diese Rasse ist nicht unerschöpflich. Sie könnte sich einmal, wenn die jüdische gemeine Hetze so weitergeht, entladen. Wir hören mit Vergnügen, daß die Juden Wien in Scharen verlassen, und wir werden uns freuen, dies auch vom ganzen Reich zu hören. Aber Ruhe wird es auf der Welt nicht früher geben, ehe der Ruf ‚Juden hinaus!‘ nicht in jedem Land der Erde erschallt.“

Das zentrale Ziel der Nationalsozialisten war die vollständige Vertreibung der Jüdinnen und Juden, alles „Jüdischen“ aus dem öffentlichen Leben, aus der Gesellschaft. Erste Schritte waren eine Vielzahl von Verboten, die zum einen alltägliche, kulturelle und religiöse Belange (Schächtverbot, Ausschluss aus Kulturveranstaltungen, Bäderverbot, Schulverbot, Ausschluss aus der Universität) und zum anderen die wirtschaftliche Lebensgrundlage (Berufsverbote, Wohnungsentzug, „Arisierungen“) betrafen. Parallel dazu setzte sogleich die Beraubung ein, an der sich nicht nur die „Ariseure“, sondern viele weitere direkte und indirekte Nutznießer beteiligten: kommissarische Verwalter, Gutachter, Abwickler, Rechtsanwälte, geschäftliche Konkurrenten, Partei und Staat, um nur einige zu nennen.

Die „Arisierung“ selbst begann unmittelbar mit dem „Anschluss“, als von Parteiformationen oder selbst ernannten kommissarischen Verwaltern neben Automobilen, Geschäfte sowie sonstiges Eigentum von Jüdinnen und Juden beschlagnahmt wurde. Bei diesen „wilden Arisierungen“, die als Akt der nationalsozialistischen Selbstermächtigung bezeichnet werden können, übernahm in Graz SA-Truppenführer Richard Ranner als Beauftragter der kommissarischen Verwalter in Absprache mit der Kaufmannschaft Graz und dem Gauwirtschaftsamt die Aufgabe, in den Betrieben kommissarische Verwalter einzusetzen. Dies geschah in der Regel derart, dass Ranner in Begleitung des jeweiligen Kommissars und weiterer Personen das Geschäft aufsuchte, die Inhaber, häufig unter Gewaltandrohung, dazu zwang, die Schlüssel und alle weiteren Wertgegenstände sowie Kassen zu übergeben und sie anschließend des Geschäftes verwies.

Als der weitgehend unkoordinierte Raubzug der ersten Wochen den Nationalsozialisten zentgleiten drohte und diese über die öffentliche Sicherheit ebenso wie das Wirtschaftsgefüge besorgt waren, wurden die Übergriffe zunächst per Strafandrohung unterbunden, und in einem weiteren Schritt versuchte man den Raub durch Verordnungen in geregelte Bahnen zu lenken.

Eine Angabe des geraubten Eigentums ist aufgrund der gezielten Entwertung und des teils undokumentierten Raubs mit Schwierigkeiten verbunden. Aus einer Aufstellung des Leiters der Vermögensverkehrsstelle Graz aus dem Jahr 1941 kann man jedoch eine zahlenmäßige Größenordnung des Raubes in der Steiermark ablesen. Demnach waren im Bereich Handel und Gewerbe 513 Betriebe von der „Arisierung“ betroffen, wovon rund 80 Prozent liquidiert, sprich die Lagerbestände verwertet wurden. Weiters „arisierte“ man 52 Industriebetriebe, ein Geldinstitut sowie 536 Liegenschaften.
Ein weiterer Verfolgungsschritt zielte auf die Zerstörung der Infrastruktur der jüdischen Gemeinde. Während die jüdischen Vereine mehrheitlich mit März 1938 ihre Tätigkeit einstellen mussten und in weiterer Folge aufgelöst wurden (allein in Graz waren davon 19 Vereine betroffen), konnte die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) mit einer kurzen Unterbrechung über den März hinaus bestehen. Ihr wurden jedoch spätestens ab April seitens der Nationalsozialisten neue Aufgaben zugewiesen; sie sollte eine tragende Rolle im Vertreibungsprozess spielen. Die Kultusgemeinde mit ihrer ab November 1938 am Entenplatz 9 untergebrachten „Auswanderungs-, Beratungs- und Fürsorgestelle“ sollte sich fortan einerseits um die mittellos gewordenen Mitglieder kümmern und anderseits der Gestapo und dem Sicherheitsdienst (SD) bei der Umsetzung der Beraubungs- und Vertreibungsmaßnahmen zur Hand gehen. So wurde Elias Grünschlag, der nach der Emigration von Präsident Robert Sonnenwald im September 1938 zum neuen Präsidenten der IKG gewählt wurde, bereits im Juni 1938 zur Gauleitung zitiert und mit der Organisation der Auswanderung der Grazer Jüdinnen und Juden beauftragt.

Dabei wurde von der Gemeindeleitung – neben einer uneingeschränkten Zusammenarbeit mit der Gestapo, dem SD und der seit August 1938 bestehenden Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien – eine administrative wie auch finanzielle Hilfestellung erwartet. Dies betraf die Beschaffung von Dokumenten, die Begleichung von „Steuerrückständen“, das Zusammenstellen von Listen, die Organisation von legalen oder auch illegalen „Auswanderungsaktionen“, wie beispielsweise der „Aktion Judenauswanderung aus der Steiermark“ oder der Beteiligung am Lisl-Transport, einem „illegalen“ Flüchtlingstransport von Wien über die Donau nach Palästina im Frühjahr 1939.

Der jüdische Friedhof
Der jüdische Friedhof © (c) dpa-Zentralbild/Sebastian Willno (Sebastian Willnow)

Um dem Motto des „Völkischen Beobachters“ vom 14. April 1938 „Der Jud muss weg – sein Gerstl bleibt da“ nachzukommen, wurde vermehrt Druck seitens der Gestapo ausgeübt. Kriminalisierung und gesellschaftliche Isolation sollten die „Ausreisebereitschaft“ erhöhen.

Als dies den Nationalsozialisten zu schleppend voranging, wurde mit den Ereignissen des Novemberpogroms eine Radikalisierung herbeigeführt. Dem Pogrom fielen in Graz die Synagoge und die Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof wie auch einzelne Geschäfte zum Opfer. Weiters wurden Persönlichkeiten wie David Herzog oder der Möbelhändler Oskar Pichler schwer misshandelt und zudem fast alle Männer (an die 300) verhaftet – in der gesamten Steiermark waren es an die 350 – und zum Großteil am darauffolgenden Tag nach Dachau gebracht. Von dort konnten sie auf Intervention der Leitung der Kultusgemeinde nur noch freikommen, wenn sie zu einer raschen Ausreise aus dem Deutschen Reich bereit waren, was jedoch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war. Denn an eine „legale“ Ausreise war meist der Abschluss der „Arisierung“ sowie die Begleichung aller diskriminierenden Sondersteuern gebunden, womit erneut der Konnex von Vertreibung und Beraubung unterstrichen wird.

Abseits dieser Schwierigkeiten wurde es gegen Ende des Jahres 1938 für die Menschen aber auch aufgrund der geopolitischen Lage immer schwieriger, neben den notwendigen Aus- auch entsprechende Ein- bzw. Durchreisepapiere zu erhalten. All das führte dazu, dass neben der „legalen“ Ausreise zunehmend versucht wurde, „illegal“ außer Landes zu kommen. Eine bedeutende Rolle spielten dabei zionistische Organisationen, die von Wien aus illegale Palästina-Transporte organisierten. Aber auch professionelle Schlepper waren an der Flucht beteiligt, wobei ihre Motive in den seltensten Fällen philanthropischer Natur waren.

Die heutige Synagoge am Grazer Grieskai
Die heutige Synagoge am Grazer Grieskai © Juergen Fuchs

Wohin die steirischen Jüdinnen und Juden fliehen konnten, ist bislang nur ansatzweise erforscht worden. Aus einzelnen Unterlagen geht hervor, dass eine große Zahl nach Palästina, England und in die USA emigrieren konnte. Zu den Zufluchtsländern zählten auch Staaten Lateinamerikas ebenso wie die Hafenstadt Schanghai und mehrere europäische Länder. Letztgenannte sollten jedoch für viele mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem Vernichtungs- und Eroberungskrieg der Wehrmacht zur Falle werden.