"Allein der gesunde Menschenverstand sagt, dass ein 23-Jähriger die Obsorge für minderjährige Geschwister nicht bewältigen kann. Ich kenne auch keinen Fall eines Österreichers, dem eine solche Obsorge übertragen worden wäre." Das sagte die Kinderpsychologin Sonja Brauner nach dem Suizid des elfjährigen Flüchtlingsbuben, eines von sechs Kindern, für die der 23-jährige Bruder verantwortlich war.

Der Elfjährige, der mit seinen Geschwistern - ein Bruder ist schwer behindert - in einer Betreuungseinrichtung in Baden wohnte, ist am 13. November gestorben. Zahlreiche Hinweise an die Behörden auf Missstände, unter anderem durch Betreuer und den ehemaligen Flüchtlingskoordinator Christian Konrad, hatten zu keinen Konsequenzen geführt.

Das verlangt Erwachsenen viel ab

"Schon eine Familie mit 'stabilen' Eltern ist in einer solchen Situation äußerst gefordert", betonte Brauner, die für den Verein Hemayat in Wien arbeitet, der psychotherapeutische Betreuung für Flüchtlinge bietet. "Allein das Schulsystem verlangt vieles ab: Lernen, Schulsachen kaufen, Elternabende besuchen - das verlangt den Erwachsenen viel ab."

Ein 23-Jähriger habe dafür keine ausreichenden Kapazitäten. "Ein Mensch in diesem Alter ist noch damit beschäftigt, seinen eigenen Platz im Leben zu suchen." Ein Flüchtling, der aus einem Land kommt, in dem jahrzehntelang Krieg herrschte, der seine Eltern verloren und die Flucht überlebt hat, sei vermutlich traumatisiert, sagte die Kinderpsychologin am Donnerstag zur APA.

Überforderung

Wenn der Elfjährige wie kolportiert Botengänge erledigt und gedolmetscht hat, stellte das eine Überforderung dar. "Kinder müssen Kinder sein dürfen. Wir haben als Gesellschaft die Verantwortung, uns um die Schwächsten zu kümmern", sagte Brauner. " Und in diesem Zusammenhang ortet die Psychologin ein weiteres Problem: Wie erklären Eltern Mitschülern des Elfjährigen ihren Kindern den Suizid des Buben? Denn nicht nur Geschwister und die Mitarbeiter der Flüchtlingseinrichtung, die sich um die Familie gekümmert haben, sind vom Suizid des Buben betroffen, sondern auch die Mitschüler.

Muttersprachliche Psychotherapie für Kriegsflüchtlinge

"Es gibt ausreichend Expertise, was Kinder benötigen", erklärte Brauner. Allein an der Umsetzung mangle es. "Nehmen wir Hemayat: Der Verein ist fast seit einem Vierteljahrhundert tätig und höchst angesehen, bekommt aber keine Basisförderung", erläuterte Brauner. Hemayat bietet muttersprachliche Psychotherapie für Kriegsflüchtlinge. Aktuell stehen 439 Menschen auf der Warteliste. Die Expertin kritisiert auch den von Fachleuten schon seit Jahren beklagten Mangel im Angebot an Psychotherapie für Kinder in Österreich. "Es sollte eigentlich so sein wie bei Zahnschmerzen: Wenn man welche hat, geht man gleich zum Zahnarzt."