Mehr als 1.000 Seiten umfasst die Anklageschrift gegen die Männer, die das Leben der "Tochter Indiens" auf dem Gewissen haben. Doch selbst wenn sie am Strang sterben sollten, wird sich Zorn der Nation damit nicht besänftigen lassen: Die 23-jährige, die Mitte Dezember in Neu-Delhi brutal vergewaltigte wurde und nun landesweit zum Symbol des Unrechts gegen Frauen wurde, ist tot, und auch weiterhin wird in Indien laut Polizei alle 20 Minuten eine Frau vergewaltigt.

Gewalt-Exzesse

Indien, das in den vergangene Jahren Boom und Modernisierung der Wirtschaft erlebt hat, bleibt dennoch das frauenfeindlichste Land der Welt. Laut einer Studie der Thomson Reuters Foundation ist nicht einmal in Afghanistan, Somalia oder Saudi-Arabien ein derartiges Ausmaß an Gewalt gegen Frauen zu finden. Nicht von ungefähr weist Indien eine der weltweit niedrigsten Geburtenraten von Mädchen auf: Jedes Jahr werden Zehntausende weibliche Föten abgetrieben.

Eine Tochter bedeutet für ihre Familie eine Bürde, ein Sohn ist ihr größter Stolz. Das hat vor allem finanzielle Gründe. Die Mitgift, die Eltern den Ehemännern ihrer Töchter geben müssen, ruiniert oft ganze Familien, weshalb viele Mädchen gleich nach der Geburt getötet werden, wenn das Geld oder der Arzt für eine Abtreibung gefehlt haben. Ein Bub wiederum wird von seiner Familie hochgehalten, weil er durch die Mitgift seiner Frau eines Tages Geld ins Haus bringen wird.

Die Mädchen in Indien, die überleben, haben ein Leben voller Diskriminierung, Ausbeutung, Gewalt und Vernachlässigung vor sich. Das Land der zahllosen Götter mag sich auch zahlloser Göttinnen rühmen. Die Vereinigung von Lingam, dem Männlichen, und Yoni, dem Weiblichen, verbildlicht die unteilbare Einheit des Männlichen und Weiblichen, des passiven Raums und der aktiven Zeit, von denen alles Leben stamme. Doch das sind religiöse Ideale, die im wahren Leben kaum Platz haben.

"Herzleiden"

Ähnlich wie Vergewaltigung werden in Indien auch die vielen Verbrennungen von Frauen kaum je geahndet. Oft sind Schwiegereltern wütend über das zu geringe Brautgeld. In der Todesurkunde der Frau wird schlicht "Herzleiden" aufgeführt. Dabei gibt es in Indien auch Frauen in Führungspositionen - etwa Sonia Gandhi als Chefin der Regierungspartei oder eine Reihe von Persönlichkeiten in Wirtschaft und Sport. Doch sie repräsentieren das urbane Indien, wo immer mehr auch junge Frauen Karriere machen. Selbst in diesen Städten, noch mehr aber in den Provinzen, gilt Gewalt aber als Kavaliersdelikt. Nur so ist zu erklären, dass Parteien in den vergangenen fünf Jahren bei Wahlen 27 Kandidaten aufstellen konnten, die wegen Vergewaltigung angeklagt sind. Sechs gewählte Abgeordnete sind angeklagte Vergewaltiger.

Für ein Leben in mehr Würde und Sicherheit sind für Frauen in Indien mehr als nur Gesetzesverschärfungen nötig. Patriarchat und Frauenfeindlichkeit seien tief verwurzelt, sagt der indische BBC-Korrespondent Soutik Biswas: "Wir brauchen einen tiefgreifenden Wandel der sozialen Einstellung", ist er überzeugt. Viele hoffen, dass das Schicksal der "Tochter Indiens" endlich der Weckruf war, der das Land verändern wird.