Es sind zwar nur ein paar Schritte zwischen der Wiener Kärntner Straße und der Spiegelgasse, aber die reichen aus, um ganze Welten zu überspringen: Drüben Menschen, die mit Kleidersäcken aus den Filialen globaler Textilkonzerne kommen, und hier Nicolas Venturini, der zwar vor seinem Geschäft auch mit zwei grünen Säcken kämpft, deren Inhalt aber das krasse Gegenteil davon ist, was die Grundlage der schnelllebigen Modewelt von heute ist: globale Trends, globale Produktion, globaler Verkauf.

Nicolas Venturini hingegen kommt eben nicht gerade aus China, sondern aus Kleinrötz bei Korneuburg. Dort, in einem ehemaligen Filmatelier, werden jene Maßhemden gefertigt, deren Ruf untrennbar mit Venturinis Vater, Gino, verbunden sind. Sein Sohn hat nicht nur das Geschäft übernommen, sondern auch sein Wissen und seine Grundsätze, darunter: „Mode ist das, was einem selbst gefällt.“ Und so stellt Nicolas Venturini im gleichen Atemzug, wie er sich im Geschäft das Maßband umlegt, klar: „Wir sind Handwerker.“

Zwar mögen hier Grandseigneurs, aber auch Trendbewusste aus und ein gehen, aber der gemeinsame Nenner ist das Handwerk. Und das bedeutet bei einem einzelnen Maßhemd nicht nur zwölf Einzelteile, sondern auch genauso viele Menschen, die daran Anteil haben.

Ein Maßhemd ist ein Stück Individualität, das dem globalen Trendkanon die kalte, aber gut angezogene Schulter zeigt. Wobei am Anfang so ziemlich das Gegenteil passiert. Überspitzt könnte man sagen: Man lässt die Hüllen fallen. Zumindest theoretisch, denn wenn Nicolas Venturini zum Vermessen ruft, dann ist das der Beginn eines - oft lebenslangen - Vertrauensverhältnisses: „Das Maßband ist nichts anderes als meine Krücke, mit der ich das Hemd in jene modische Richtung entwickle, wie der Kunde sich das vorstellt. Meine Aufgabe ist es, ihm die richtigen Fragen zu stellen, um herauszufinden, wie er das Hemd will.“

Eine modische Anamnese, auf der die Schnittzeichnung folgt. Das ist in den meisten Fällen reine Chefsache, auch, weil es eine Herzensangelegenheit ist: „Schnittzeichnen ist für mich der Kern des Maßhemdes.“ Anhand des Schnittes wird ein Probehemd angefertigt, danach der Schnitt, so nötig, korrigiert. Es ist ein Herantasten an die Perfektion - unter Berücksichtigung aller individueller Eigenheiten eines Menschen. Und das sind nicht wenige: „Der Unterschied zwischen Maßkonfektion und Maßhemd ist, dass ich beim Maßhemd auf die Balance Rücksicht nehme. Ich schaue, wie lang ist die linke Schulter, wie lang ist die rechte Schulter, wie steht der Kunde? Hat er eine aufrechte Haltung? Wie ist seine Schulterform?“, schildert der Hemdenmacher das feine Austarieren von Wunsch und Wirklichkeit.

Der fertige Schnitt ist auch die Eintrittskarte ins Venturini-Archiv. Und es muss einem ja nicht unbedingt der Kragen platzen, es reicht schon der Wunsch nach einem neuen Hemd, dass der Schnitt gebraucht wird.  Passt das Probehemd, wird die Kragenform und der Stoff ausgesucht, dieser wird gewaschen und liegend getrocknet. Danach beginnt die Fertigung des Hemdes, dessen Genese insgesamt rund vier Wochen dauert. Das händische Einsetzen des Ärmels ist noch einmal Präzisionsarbeit, auch, weil man hier noch einmal - je nach Schulterhaltung und Kugelform - nachschärfen kann. Rund 180 Euro kostet ein maßgeschneidertes Hemd. Ob man ein handgesticktes Monogramm möchte, ist Ansichtssache, so Venturini: „Ein Monogramm macht noch kein Maßhemd. Gefragt ist handwerkliches Können, sehr viel Leidenschaft und genaues Zuhören.“

Und das kann der Hemdenmacher: Ein langjähriger Kunde holt gerade seine reparierten Hemden ab, die Modelle werden noch einmal sorgfältig geprüft, es wird dabei gefachsimpelt und geplaudert. Auch das ist wohl eine Form der Nachhaltigkeit. Und das gilt seit jeher auch für die Hemden: Wer eines kauft, bekommt einen Reservestoff dazu: „Unsere Kunden bringen die Hemden nach fünf, sechs Jahren zur Reparatur. Wir machen neue Manschetten oder einen neuen Kragen und das Hemd hält wieder für ein paar Jahre.“ Der Schnelllebigkeit schenkt man hier allenfalls ein mildes, aber sehr charmantes Lächeln.