Hinter der Leichtigkeit des Angesagtseins steckt harte Arbeit, die man auf keinen Fall sehen darf. Alles muss schnell-schnell zusammengezimmert wirken – Zufall mit Kalkül. Auf alles vorbereitet sein, lautet die Devise hinter den Outfits auf Berlins Straßen: den Parkas, die zum Hängerchen kombiniert werden; den weißen Blusen zu den Röhrenjeans; den Sneakers zum edlen Kleid. So der derzeitige Stil in der Stadt, die des Nachts etwas länger zum Spielen rausgeht und danach mit blauen Flecken und einem handfesten Kater nach Hause wankt. Eine hyperaktive Stadt mit offener Wachstumsfuge. "Es hat sich in den letzten Jahren weniger ein Stil gewandelt, als er sich vielmehr definiert hat, sodass man hier in Berlin eine eigene Modesprache erkennt", meint Angelika
Taschen, Berlins Mode-Päpstin.


Die 56-jährige ausgebildete Tänzerin weiß, wie man stilsicher übers Kopfsteinpflaster einer der angesagtesten Großstädte tänzelt – es gibt allein zehn Modeschulen in der Stadt und 18.500 Erwerbstätige leben von der Berliner Modebranche – und wie Trends geboren werden. Wie zum Beispiel der Hype um Berlin-Mitte, dem aktuellen Epizentrum der Szene. „Es ist der Ort in Berlin, der nach dem Fall der Mauer nicht definiert war, so konnte sich hier frei ein neuer Lebens-und Modestil entwickeln. Dagegen waren die westlichen Bezirke über viele Jahre eher verschlafen, was sich gerade aber auch wieder ändert. Berlin bleibt einfach spannend.“ Und in Bewegung. Der Prenzlauer Berg, früher der Kiez der Revoluzzer,wurde zur Oase eines neuen Bürgertums. Spießer statt Spaß.

Die Lauten von damals wollen heute vor allem eines: ihre Ruhe. Gentrifizierung, eine der Schattenseiten der dynamischen Mode-Hauptstadt, in die 1993, vier Jahre
nach dem Umbruch, knapp drei Millionen Besucher kamen. 2012 war die Zehn-Millionen-Marke schon vor Ende des Jahres geknackt. Jeder will hierher. Tagsüber mit dem leuchtenden Apfel am Laptop in Cafés mit zwangsoriginellen Namen berufsbedingt an der Kreativität der Stadt mitschrauben und abends, wenn der Apfel wieder erlöscht, den fetten Klängen der DJs lauschen. Im selben Lokal, auch sie sind auf alles vorbereitet.Und mittendrin, zwischen den Kulturen, Lebensarten und -linien, köchelt ein Stil, der täglich neu abgeschmeckt wird.

Angelika Taschen: "Der Berliner Stil ist eher zurückhaltend, nichtschrill. Er basiert auf einfachen Basics, die mit Accessoires wie Brillen, Schuhen, Schmuck individualisiert werden. Man trägt Grau, Schwarz, Blau und Armygrün." Auch hier ist Zurückhaltung die oberste Devise. „Man trägt nicht zur Schau, wenn man sich etwas Besonderes geleistet hat, Logoschals und Handtaschen mit  Goldplaketten sind hier verboten. Auch muss es für die Berlinerin praktisch sein, sodass sie auf ihrem Fahrrad von einem Meeting zum nächsten fahren kann. Dazu trägt sie tagsüber flache Schuhe wie Sneakers oder Ballerinas, eine winddichte Jacke."  Welcher Mensch wäre Berlin? "Ein sehr natürlicher!" Natürlich.

Buch-Tipp:
Der Berliner Stil. Angelika Taschen. Knesebeck, 25,70 Euro.