Roter Samt, weiße Türen, ein schmaler Gang, die Decke niedrig: Ja, man darf ins Grübeln kommen. Noch mehr, wenn es heißt: „Wir gehen durch die weiße Tür.“ Ein kurzer Blick zurück, nicht ausgeschlossen, dass man das große, weiße Kaninchen übersehen hat. Wie konnte Alice schnell noch einmal das Wunderland wieder verlassen?

Es sind zwei Welten, die diese weiße Tür trennt: Vorne die Feststiege und Prunksäle mit ersten Aufbauarbeiten für den Opernball am Donnerstag. Dahinter: All das, was nötig ist, um den Glanz und die Sehnsucht, die man vorne erwartet, Wirklichkeit werden zu lassen. Nennen wir es Herzstück. Pulsschlag. Wunderland. Für den Anfang ist man schon froh, dass Doris König von der Staatsoper die Marschrichtung vorgibt. Sechs Stockwerke plus zwei Kellergeschoße, ein Gewirr aus Treppen. König erahnt die bange Frage und lacht: „Am Anfang ist man nicht allein unterwegs.“ Die Orientierungspunkte sind hier musikalischer Natur, aber flüchtig: Hier liegt Musik in der Luft. Öffnet man eine Tür - ein Klavier. Biegt man um die Ecke - eine zarte Frauenstimme, einen Stock höher - ein ganzer Chor.

Die Stars gehören hier zum Alltag

Es ist Mittag, an allen Ecken und Enden wird geprobt. Da das Ballett, dort ein Solist - geschäftiges Treiben, aber entspannt. Auch, was diverse Superstars der Opernwelt betrifft. Niemand fällt hier in Ohnmacht, wenn Anna Netrebko durch den Gang flaniert, das hier ist Alltag: „Sie sind normale Mitarbeiter, sie kommen schon vor den Vorstellungen, um etwa Kostüme anzuprobieren und auch, um zu proben.“ Man ist hier, um eine Rolle zu spielen. Dazu gehört auch die Maske, getrennt für Frauen und Männer. Die hohe Kunst der Verwandlung: Spiegel, Schminke, Kämme, Perücken - und vertraute Hände: „Die Damen und Herren der Maske kennen unsere Künstler.“ Für Spezialwünsche bleibt wenig Raum: „Die Masken sind vorgegeben.“

Wir flanieren an den Garderobenräumen vorbei. Wenn diese hier Geschichten erzählen könnten! Orte der Nervosität, der Euphorie, der Angst, Orte der Freuden- und Wuttränen, aber auch Orte der Verwandlung. Es ist früher Nachmittag, die Kostüme für den Abend hängen schon bereit. „Eigene Mitarbeiter kümmern sich um die Vormittagsprobe und richten dann auch für den Abend ein.“ Am Gang stehen Kisten mit wohlbekannten Aufschriften wie „Nabucco“ oder „Otello“. Darin? Was man als Rolle von Welt halt so braucht - vom Gürtel bis zum Handschuh.

Im Grunde könnte man sich im Treppen- und Gangwirrwarr an den Kostümen orientieren. Wäre das nicht so trügerisch, denn in jeder noch so kleinen Nische steht ein Kostümständer: Fracks, Hemden, dort der Papageno für die „Kinderzauberflöte“ und eine Stiege weiter unten zehn Mäntel am Stück. Nicht unwahrscheinlich, dass hinter der nächsten Ecke die dazugehörige Horde halb nackter Generäle hervorkommt.

Kostüme an allen Ecken und Enden
Kostüme an allen Ecken und Enden © Jürgen Fuchs/Kleine Zeitung

Es geht weiter, nach oben. Eine genaue Standortangabe ist mittlerweile längst unmöglich. Und wieder eine weiße Tür. Doris König klopft an. Sanft. Fast so, als dürfte man die Musen dahinter nicht vergrämen. Draußen pöbelt die Welt, hier agiert man mit Bedacht.  Die Stimme dahinter ist fröhlich: Es ist das Reich von Herrenschneider Johann Jokl. Seine Attribute: Herzlichkeit und ein unerbittliches gelbes Maßband. Hinter ihm rattert die Nähmaschine, überlagert von - wie sollte es anders sein - klassischer Musik aus dem Radio. Hier in der Repertoireschneiderei werden die Kostüme geändert. Und zumindest hier sieht man konkrete Spuren vom Opernball, rund 200 Herren vom Personal müssen mit einem Frack ausgestattet werden und bei diesem Kleidungsstück muss wirklich alles perfekt sitzen.

Jokl führt uns in das Herzstück des Ateliers: das Magazin mit Solistenkostümen, manche von ihnen schon Jahrzehnte alt, wie jenes in seiner Hand. Ein Kostüm aus „Tosca“: „Eine unserer ältesten Vorstellungen, hier sind die Kostüme noch wirklich mit der Hand genäht.“ Augenscheinlich zeigt sich, dass eine Oper in zweierlei Hinsicht aus einem guten Stoff sein muss: „Wir haben ja auch Opern mit dünnen Seidenstoffen, da ist es dann problematisch, wenn man eine Naht mehrmals auftrennt.“

Herrenschneider Johann Jokl
Herrenschneider Johann Jokl © Jürgen Fuchs/Kleine Zeitung

Das mit dem Auftrennen und Erweitern ist bisweilen eine heikle Sache. Hier ist Jokl ein echter Geheimnisträger, denn sein Metermaß zeigt sehr genau, bei wem es um die Leibesmitte zwickt und zwackt. Manchmal zeigt er sich auch als echter Würde(n)träger: „Hin und wieder macht man die Hose schon im Vorfeld weiter.“ Startenor Jonas Kaufmann erweist sich in Sachen Disziplin als echter Einserschüler: „Der ist sehr brav, der verändert sich eigentlich nicht.“

Anderswo in diesem Haus ist die Veränderung die wichtigste Triebfeder. Genau dort, wo die beiden Welten, die vordere und die hintere, plötzlich wieder aufeinandertreffen und einen gemeinsamen Nenner haben: die Bühne. Der Anblick, der sich einem - erraten, man geht durch eine weiße Tür - bietet, ist schlichtweg atemberaubend. Ein Universum aus Technik, Schnüren und viel Raum. Mehrere Stockwerke ist der gigantische Bühnenraum hoch. Oben im Theaterhimmel leuchtet eine schier unermessliche Anzahl von Scheinwerfern. Wie von Geisterhand kommen weiße Leinwände herunter, während eine ganze Landschaft beinahe lautlos im Dunkeln verschwindet. Zuständig dafür sind die Mitarbeiter hoch oben im sogenannten Schnürboden. Es ist eine beeindruckende Mischung aus Technik und dicken Tauen, digital und manuell. Ein perfektes Zusammenspiel, ein Orchester der visuellen Klangkörper.

Ein Blick vom Schnürboden auf die Bühne
Ein Blick vom Schnürboden auf die Bühne © Jürgen Fuchs/Kleine Zeitung

Drei Teams in drei Schichten sind für die Umbauten zuständig. Rund 360 der insgesamt rund 950 Mitarbeiter sind der Technik zugehörig. Stillstand herrscht hier keiner: Kisten, Kästen, Wände werden gehoben und verschoben. So lange, bis die Bühne eine ganz neue Rolle übernimmt und für Darsteller wie Zuschauer zum höchsten der Gefühle wird. Und das wird es oft, gilt die Wiener Staatsoper doch weltweit als eines der Häuser mit dem größten Repertoire. In der Spielzeit von September bis Juni finden über 300 Vorstellungen statt, darunter über 60 verschiedene Opern- und Ballettwerke. Um diese Aufgabe zu stemmen, braucht es entweder eine Zauberflöte oder ein eingespieltes Team, Solisten sind hier ausnahmsweise fehl am Platz. Im täglichen Trubel ist der Opernball nur ein Zwischenspiel: „Am Montag gibt es noch eine Aufführung, ab Dienstagfrüh wird für den Opernball aufgebaut und ab Samstag ist wieder eine Vorstellung“, so Doris König, die in den Orchestergraben bittet. Ein Elysium und Sehnsuchtsort für alle Musiker - nicht zuletzt, weil aus dem Orchester auch die Wiener Philharmoniker rekrutiert werden.

Der Orchestergraben in der Wiener Staatsoper
Der Orchestergraben in der Wiener Staatsoper © Jürgen Fuchs/Kleine Zeitung

Wer hier steht, spürt es physisch: Musik verbindet. Der Orchestergraben als Brücke zwischen Bühne und Zuschauerraum, der von hier unten weniger groß als angenommen, aber sehr erhaben wirkt. Die insgesamt 85 Logen bilden die fehlende Hälfte einer Einheit. Bei all dem Blick auf das große Ganze hätten wir fast ein wichtiges Detail zwischen Bühne und Orchestergraben vergessen. Ein kleines, verstecktes Kämmerchen: ein Rettungsboot, mehr eine Nussschale, die den auf der Bühne nach Worten Dürstenden unter die Arme greift. Hier, direkt unter der Bühne, sitzt der Souffleur. Der übrigens rein gar nichts mit dem berühmten Phantom der Oper zu tun hat. Wien ist phantomlos, wie Doris König bestätigt.

Ganz ausschließen kann man das in einem Opernhaus jedoch nie. Gut möglich, dass es uns ausgetrickst hat: Waren wir zu ebener Erd, war es vermutlich im ersten Stock. Ein Illusionskünstler im besten Sinne.