Athen einen Geheimtipp zu nennen, wäre doch ziemlich verwegen. Wenngleich die Stadt, in deren weißem Häusermeer die Hälfte der rund zehn Millionen Hellenen lebt, unter Städtetouristen noch kaum die erste Wahl ist. Doch während der griechische (Insel-)Tourismusmotor brummt, will auch die Hauptstadt zeigen, dass sie mehr ist als bloß Kulisse für ein nobles Erbe. Die Gäste lassen sich jedenfalls in Scharen locken: Plus 60 Prozent in nur einem Jahr vermeldete jüngst der Athener Bürgermeister Giorgos Kaminis. Bilder von Straßenkämpfen und Protestzügen Tausender scheinen aus den Köpfen potenzieller Gäste verschwunden. 4,1 Millionen Menschen, mehr denn je zuvor, besuchten die griechische Hauptstadt – und sie irren nicht.

Monastiraki-Platz
Monastiraki-Platz © Sommersguter


Natürlich: die Akropolis. An ihr kommt kein Mensch vorbei, nicht nur, weil sie 156 Meter hoch auf einem zentralen Felsen thront. Die berühmteste Ruine Europas ist griechisches Nationalheiligtum, heute vergöttert wie einst Zeus, und eine Großbaustelle, auf der ein Baukran und Gerüste vor dem Parthenon eine idealisierte Version der Antike zurechtrenovieren.
Rund um die das Stadtbild beherrschende Akropolis finden sich fußgängerfreundlich etliche weitere weltberühmte antike Stätten, wie die römische und antike Agorá, die zwei historischen Marktplätze. Ihr modernes Gegenstück findet die Akropolis im sehenswerten gleichnamigen Museum am Fuße des Felsens. Wie ein Pfeil weist das transparente, von attischem Licht erleuchtete Gebäude auf die antike Kultstätte.

Athen kann mehr

Doch Athen kann freilich viel mehr als antik: Allerorts schießen Lokale und Kulturinitiativen aus dem Boden, etablierte Einrichtungen verpassen sich Faceliftings. Der griechische Patient zeigt hier deutliche Spuren der Genesung. Ein Antipode zum untergangsverurteilten Griechenland, aber auch zur weitverbreiteten Armut, die aufmerksamen Fußgängern auf Schritt und Tritt in Gestalt zahlloser Obdachloser und verfallener Gebäude begegnet.


Eine geniale Möglichkeit, ein anderes Athen zu ergehen, sind „Alternative Athens Neighborhood Walks“ (www.alternativeathens.com). In drei Stunden durchschreiten Besucher Straßen und Viertel, die die Vergangenheit und Gegenwart verbinden oder durchkreuzen. Es wird einem bewusst, dass Athen erst nach seiner Erhebung zur Hauptstadt 1834, infolge der Befreiung von den Türken, seine Stadtwerdung durchlebte. Gerade einmal 5000 Einwohner hatte es damals, viele davon hausten auf den Tempelruinen der Akropolis.

Auf alternativer Tour

Wir lauschen unserer Stadtführerin Vassia aufmerksam beim Spaziergang durch das Athen der Haupt- und Seitenstraßen, ziehen mit ihr durch die Pláka, die Altstadt mit hoher Lokaldichte am Fuße der Akropolis, vorbei an der einzig verbliebenen – früheren – Moschee Athens am Monastiraki-Platz und der hiesigen Metrostation, die beweist, wie sehr die Antike das Leben hier noch heute bestimmt: Zufällig entdeckte man hier beim U-Bahn-Bau ein gemauertes Flussbett, Wasserleitungen und Hausruinen sind neben dem Eingang zur unterirdischen Filiale einer Modekette zu bewundern.

Evzonen vor dem Parlament
Evzonen vor dem Parlament © Sommersguter

Auf dem Syntagma-Platz ist der Sitz des Parlaments, Schauplatz politischer Dramen und des Schauspiels der Evzonen, in historischer Tracht gewandeter Wachsoldaten, deren bemerkenswerte Schritte zu jeder vollen Stunde Touristen anlocken. Kostenlos zu besichtigen ist jener bedrückende Ort, an dem während deutscher Besatzungszeit der griechische Widerstand interniert und gefoltert wurde – Inschriften auf den Wänden legen beredtes Zeugnis vom damaligen Schrecken ab (Memorial Site 1941–1944, 4 Korai St.).

Wiens Parlament in Athen?

Bemerkenswert sind jene weiß getünchten Gebäude, die einem das Gefühl geben, nach Wien versetzt worden zu sein. Theophil Hansen, der Baumeister unseres Parlaments, hat sich hier in der „Athener Trilogie“, zwischen Syntagma- und Omonia-Platz gelegen, ansehnlich in der Kunst des Neoklassizismus geübt. Vassia (ent-)führt ihre Mitspaziergänger auch in Lokale, die nur Einheimischen vertraut sind, weil ohne jeden Hinweis verborgen, und in den Bauch von Athen, die pulsierende Markthalle.

Wir begegnen bei unserer Recherche immer wieder Menschen, für die es keinen besseren Ort der Welt gibt als diesen, allen ökonomischen Widerhaken zum Trotz. Der smarte Vasilis Dimous ist etwa einer, der zwei Welten kennt – das kalte Deutschland, in dem er aufgewachsen ist, und das mediterrane Griechenland. Zwecks Studium und Gründung eines Start-ups zog er, Sohn griechischer Gastarbeiter, aus dem reichen Stuttgart in den Süden. Was den Ausschlag dafür gab? „Die Sonne.“ Er erlebte die griechischen Boomjahre bis 2004, als falsche Versprechen und allzu leichtfertig vergebene Kredite das Land in den kollektiven Rauschzustand versetzten. „Alle waren happy.“ Es war ein Darlehen auf die Zukunft. Der Fall tief, der Aufprall hart: „Griechen wissen, dass vieles falsch gelaufen ist.“ Und: „Durch Schwierigkeiten wird man stärker.“ Vasilis gehört zu den Gewinnern der Wirtschaftstragödie: Er ist heute CTO der Preisvergleichplattform Skroutz, 700.000 Landsleute nehmen deren Dienste täglich in Anspruch, Geiz ist geil. Nach Deutschland zurück will er nicht mehr, obwohl seine Schwester dort ebenfalls ein florierendes Start-up betreibt.

Vassia und Ioanna
Vassia und Ioanna © Sommersguter


Ioanna ist von der Insel Ios nach Athen gezogen, wo sie ein Delikatessengeschäft betreibt. Es sind viele Touristen, die sie mit dem Geschmack der griechischen Provinzen vertraut macht. Anders als die meisten Einheimischen müssen diese den Euro nicht dreimal umdrehen, ehe sie im Lalades im Stadtteil Psyrri ein kleines Vermögen zurücklassen (www.lalades.gr).

John Doxaras und Maria Patsi haben ohne Zweifel einen der schönsten Arbeitsplätze Athens. Unweit des betriebsamen Monastiraki-Platzes, mit Blick auf die Akropolis programmieren und vermarkten sie App-Services. 250 Prozent Wachstum jährlich ließen selbst das Silicon Valley neidvolle Blicke nach Athen werfen, während die beiden Inhaber, so wie andere Unternehmer, nicht nur in den Westen schielen, sondern Afrika und den Nahen Osten im Auge haben: Griechen verstehen sich als Scharnier in den östlichen und südlichen Mittelmeerraum.

Entrepreneure in Athen, der EU-Krisenmetropole? Was für unsere Ohren wie ein Witz klingen mag, ist für Roula Bachtali stressiger Alltag. Die Managerin des Jungunternehmerprogrammes „Egg“ in einem modernen Headquarter vermisst die Erfolge ihrer Schützlinge. Seit 2014 versuchen jährlich je rund 30 Jungunternehmer, subventioniert von der griechischen Eurobank, ihr Glück. Es sind die Besten aus 1800, die sich bewerben. In die Identität der Hellenen „Ideen und Energien zu verpflanzen“ ist ihr hehres Ziel, ein Aufbäumen gegen die übermächtige, allgegenwärtige antike Kultur. „Egg“ öffnet den Helden des neuen Athen ein „Window of opportunity“. Es ist ein eher zugiges Fenster, das sich nach einem Jahr der Bewährung schon wieder schließt, wenn die nächsten Hoffnungsvollen einziehen.

Happy End für moderne Kunst

Nicht ökonomische, sondern kulturelle Highlights verspricht das EMST (Kallirois Ave/Amvrosioi Frantzi Str.), das in einer ehemaligen Brauerei angesiedelte Museum moderner Kunst. Noch ist, erzählt Direktorin Katerina Koskina, erst rund die Hälfte der Ausstellungsfläche geöffnet, aber die Exponate der 20 griechischen und 46 internationalen Künstler zeigen ein Athen fernab antiken Flairs. Es ist ein Meilenstein, dass dieses Museum nach jahrzehntelanger Diskussion überhaupt öffnete. Im April wird Athen sogar zum europäischen Zentrum moderner Kunst avancieren: Die documenta 14, die weltweit größte zeitgenössische Schau, wird am 8. April in Athen eröffnet und bleibt dort bis 16. Juli.

Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von Marketing Greece (www.discovergreece.com) und Aegean Airlines unterstützt.