Klirrende Kälte empfängt uns früh am Morgen. Die von rund 300 Jahre alten Buchen gesäumte kleine Allee mitten im Nirgendwo kann man im Nebel nur schemenhaft wahrnehmen. Eine Frage drängt sich auf: Was tun wir hier? Oder besser: Was tun die alle hier?

In der Bregagh Road nahe Armoy stehen die Menschen nämlich Schlange, es herrscht dramatisch erhöhtes Selfiestick-Aufkommen, ständig stören klickende Kameras die morgendlichen Konzerte der Vögel in den Bäumen, und Reisebusse quetschen sich an die Hecken entlang der schmalen Straße wie Perlen an einer Kette. Man muss kein Sherlock Holmes sein, um zu wissen, dass hier etwas im Busch ist. „Dark Hedges“, um genau zu sein. Nur muss die Autorin dieser Zeilen gestehen, noch nie eine Folge von „Game of Thrones“ gesehen zu haben. Nordirland ist wie die Allee mitten im Nirgendwo einer der Schauplätze der Serie und hat es auch deshalb auf der aktuellen Liste von Lonely Planet auf Platz 1 der angesagtesten Destinationen geschafft. Die Fans, genannt „Thronies“, wir werden sie wieder treffen auf unserer Reise.

Dann doch lieber etwas unternehmen, was noch als Geheimtipp gilt. Zugegeben, mit rund 800.000 Besuchern pro Jahr ist der Giant's Causeway wohl bekannt. Aber nur ein Prozent der Besucher weiß, was man sich entgehen lässt, wenn man sich ihm nicht über den Cliff Path Walk nähert. Und vor allem mit Eimear Flanagan an seiner Seite. Mit schlafwandlerischer Sicherheit führt sie uns entlang des Pfades hoch über den Klippen – kein Wunder, geht sie ihn in der Hauptsaison doch mehrmals täglich. „Der Causeway besteht aus etwa 40.000 gleichmäßig geformten Basaltsäulen“, erzählt Eimear. Geologen führen seine Entstehung auf die Abkühlung heißer Lava zurück, aber die Iren haben da eine wesentlich unterhaltsamere Theorie: Der Riese Finn McCool soll den Damm gebaut haben, um über das Meer zu seinem schottischen Widersacher Benandonner zu gelangen. Wie der Kampf ausgegangen ist, lässt man sich am besten bei einer Verschnaufpause von Eimear erzählen, bevor der Anblick des Giant’s Causeway selbst ihr die Sprache verschlägt. In der Hauptsaison sogar mehrmals täglich.

Bei guter Sicht zumindest bis Schottland sehen kann man von Carrick-a-Rede ganz in der Nähe. Die unbewohnte Insel ist seit rund 350 Jahren mit dem Festland durch eine Hängebrücke verbunden, die sich in 30 Meter Höhe spannt. Nur 25 Kilometer von den Nachbarn im Kilt entfernt liegt das paradiesische Rathlin Island. Bei nicht einmal 100 Einwohnern und 30 (wärmstens empfohlenen) Touristenbetten haben Dreizehenmöwe, Papageientaucher, aber auch Seehunde, die sich am Strand in der Sonne rekeln, ihren Frieden. Und der Besucher auch.
So schlecht war unsere konditionelle Vorstellung beim Wandern der letzten Tage nun auch wieder nicht. Trotzdem finden wir uns hinter nordirischen Gardinen wieder. Aber im Gegensatz zur Belegschaft zwischen 1845 und 1991 müssen wir Eintritt zahlen. Kinder, IRA-Kämpfer, Feministinnen – sie alle haben ihre Strafe im Gefängnis Crumlin Road Gaol in Belfast abgebüßt. „Bei meinen Führungen habe ich manchmal noch Besucher dabei, die hier in Haft waren“, erzählt Tom, der durch die Zellen führt.

Dass die Entspannung im Nordirlandkonflikt – von den Einheimischen salopp „The Troubles“ genannt – noch nicht allzu lange währt, das kann man in Belfast auf Schritt und Tritt sehen. In manchen Fassaden prangen sie noch immer, die Löcher der verschossenen Kugeln. Wo sie jemand das Leben gekostet haben, liegen Kränze. Und die berühmten Murals, die bunten Wandbilder an Haus- oder den vielen Friedensmauern erzählen die Geschichte in ihrer eigenen Sprache. Ähnlich wie in der zweitgrößten Stadt (London)Derry, wo 1972 der von U2 besungene „Bloody Sunday“ 13 Menschen das Leben kostete.

Ja, der Schatten der Ereignisse liegt über den Städten Nordirlands, aber sie tragen keine Trauer. Vielmehr holen sie das Leben nach. In Belfasts Cathedral Quarter und innerhalb der historischen Stadtmauern von Derry wird abends gefeiert, dass es Ibiza zur Ehre gereichen würde. In der viktorianischen Markthalle St. George’s und um die Albert Clock – quasi Belfasts schiefer Turm von Pisa – brummt es wie in einem Bienenstock. Wer sich eine der vielen geführten Touren durch die historischen Pubs entgehen lässt, dem kann nicht geholfen werden.

Doch der nahende Brexit kratzt an den Narben, die langsam zu heilen beginnen: In manchen Straßenzügen weht der britische „Union Jack“, in anderen die irische Fahne. Was die Nordiren eint, ist die Hoffnung, dass es zu den südlichen Nachbarn keine echte Grenze geben wird. „Das würde den Friedensprozess zurückwerfen“, sagt Tourguide Billy. „In manchen Vierteln beginnt man damit, Bilder mit dem Nordirlandkonflikt als Thema mit anderen Motiven zu übermalen“, erzählt Billy. „Unsere Jugend braucht dringend neue Helden.“