Wer sich nach Bosnien und Herzegowina aufmacht, um dort zu wandern, erntet ausnahmslos fragende Blicke. Die Auslöser der Verwunderung verknappt zusammengefasst lauten: Wohin? Und: Warum? Die Kenntnis der Balkanhalbinsel endet hierzulande zumeist in Istrien, manchmal erst in Dubrovnik, ziemlich sicher aber in Kroatien. Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Kosovo und Mazedonien sind uns fremder als die Türkei, Spanien oder Griechenland. Dabei liegt etwa Sarajevo, Bosniens lebhafte und welthistorisch so bedeutende Hauptstadt, nur eine lächerliche Flugstunde von Wien entfernt.

Bosniens Bergwelten zu durchwandern, ist nicht nur ein nachhaltiges Abenteuer für Körper und Geist, sondern die Wege dorthin sind auch eine Zeitreise ungeahnten Ausmaßes. Dabei verwundern Wandbildchen von Josip Broz Tito noch weniger als riesige Wandgemälde von Radovan Karadzic und Ratko Mladic in der Republika Srpska, die 49 Prozent des komplizierten und dezentralisierten Staatsgebietes einnimmt. Mit Abstand meistverbreiteter Pkw im Land ist der Golf II, der zuletzt 1992 vom Band lief. Die Bosnier schätzen seine offenkundige Langlebigkeit und Bergtauglichkeit. Selbst in der Halbnomadensiedlung Lukomir, dem höchstgelegenen Dorf des Landes auf 1469 Meter Seehöhe, ist der legendäre Wolfsburger präsenter als etwa ein Jeep, der die Güterwege wohl sanfter bewältigen würde.

Zu Fuß dorthin gelangt man ebenso über historischen Boden - besser gesagt Hänge: über den Gebirgszug Bjelasnica südwestlich von Sarajevo. Nachdem man die unberührten Mischwälder durchquert und die Waldgrenze überschritten hat, steht man etwa drei Stunden später am verfallenen Start der Olympia-Abfahrt 1984. Der musste damals künstlich verlängert werden, da die Strecke sonst zu kurz gewesen wäre. Anton Steiner bescherte das Starthaus damals Bronze und Österreich die einzige Medaille. Nach Lukomir und Umoljani geht es durch eine mysteriös-fremde Karstlandschaft von einer so schrecklich-schönen Weite, dass sie auch Regisseur Peter Jackson gut gefallen müsste. Aber er verortete „Herr der Ringe“ in eine nicht unähnliche Gegend in Neuseeland.

Umoljani, ein Hochlanddorf fern von allem, was auch nur in die Nähe von Überfluss kommt, ist auch der Ausgangspunkt zweier weiterer Wanderungen von solch opulenter Pracht, wie etwa entlang der Rakitnica- Schlucht oder auf den 1960 Meter hohen Vito, dass selbst die rustikale „Pension Umoljani“ den Trip nicht trüben kann. So hervorragend die Hausmannskost in dem Familienbetrieb auch ist, so lässig wird mit Buchungen umgegangen. Aber die meisten Bergfexen können auch mit einer unerwarteten Gemeinschaftsdusche und einem WC für alle sowie nächtlichen Wasserabschaltungen leben. Zudem ermüden die Wanderungen ohnedies solcherart, dass man die Nacht durchschläft.

Endlose Weiten der Bjelasnica
Endlose Weiten der Bjelasnica © Steiner

Ein Gipfelprofi muss niemand sein, der Bosniens Bergwelten erkundet. Ehrgeiz, Mut und etwas Kondition genügen. Allerdings könnte Höhenangst einem die Reise verderben. Auf dem Vito kann es nicht nur selbst im August bitterkalt werden, einige Abschnitte legt man auf dem Grat zurück. Da schadet es nicht, verhindert dichter Nebel die Blicke der Zartbesaiteten in den Abgrund. Auch auf der Königsetappe hilft es schwindel- und angstfrei zu sein. Sie führt vom „Hotel Mladost“, einer Herberge in welcher der Kommunismus noch in der Luft liegt, auf den Maglic, Bosniens höchsten Berg im Nationalpark Sutjeska.

Der Maglic liegt im Nationalpark Sutjeska
Der Maglic liegt im Nationalpark Sutjeska © Weltweitwandern

Seine 2386 Meter sind genau so lange nicht respekteinflößend, bis man am Fuße steht, die mit Buchen und Nadelbäumen bewaldeten Hänge emporblickt und zum ersten Mal auf der Reise einen Helm überreicht bekommt. Aber wer sich an die Anweisungen der Bergführer hält und auf den steilsten Abschnitten keine Selfies versucht, hat nichts zu befürchten - ein Anseilen ist auf dem vierstündigen Aufstieg nie vonnöten. Oben angekommen ist man nicht nur erleichtert und stolz, sondern auch ein wenig erstaunt. Auf dem höchsten Berg des Landes weht nicht die Fahne Bosniens, sondern jene der Republika Srpska, auf deren Gebiet sich der Maglic erhebt.

Zu einer letzten Herausforderung wird der Abstieg, denn er birgt ganz andere Tücken als der Weg hinauf: So rutscht es sich fast zwei Stunden erst über Erde, dann über Kies. Labsal bietet in diesen Momenten nur der Ausblick auf das herzige Ziel in Montenegro: Der Südhang des Magli´c liegt nicht nur im Nachbarland, sondern auch am Trnovacko-See, einem kristallklaren Gewässer in Herzform. In diesen Momenten nicht zu wissen, dass der Bus noch zwei weitere Stunden entfernt wartet, ist kein Fehler.