Ist Österreich zu sehr der Tradition verpflichtet, um eine internationale kulinarische Größe zu werden?

HEINZ REITBAUER: Eine Küche lebt von Geschichte, von ihrer Tradition - aber auch davon, dass sie sich weiterentwickelt. Es muss einen Gleichklang zwischen Tradition und Modernität geben. Damit beschäftigen sich Betriebe wie wir ständig. Letztendlich kommt es uns auch darauf an, einen positiven Einfluss mithilfe von Biodiversität auf die Kulturlandschaft zu nehmen, wenn wir die Vielfalt fördern. Da gibt es in Österreich Paradebeispiele, wie man sie in anderen Ländern gern hätte.

Welche zum Beispiel?

REITBAUER: Es braucht viele Initiativen und Strategien, die von der Aufzucht bis zum Verkauf reichen. Das fängt bei der Arche Noah und kleinen Saatguterhaltern an, geht über den hohen Anteil an biologisch ideologisiert geführten Betrieben, die sich - basierend auf ihrer Struktur einer kleinen Landwirtschaft - spezialisieren, ihre Produkte veredeln, bis hin zu regionalen und nationalen Initiativen wie dem Kochcampus. Eine Gemeinschaft aus 45 Persönlichkeiten aus Küche und Landwirtschaft, die sich zu einem gemeinnützigen Verein zusammengeschlossen haben und das „Gesamtkunstwerk“ österreichische Küche weiterentwickeln und kommunizieren.

Was halten denn internationale Köche von den österreichischen Produkten?

REITBAUER: Überspitzt formuliert, sind sie überrascht, was hier geboten wird. Das ist unser Vorteil - wir können noch überraschen. Das wird aber langfristig nicht ausreichen. Internationale Köche müssen wissen, dass sie - wenn sie zum Beispiel den besten Süßwasserfisch wollen - den in Österreich kriegen können, egal was er kostet. So weit sind wir aber noch nicht. Wenn das gelingt, werden wir einen stärkeren Kulinariktourismus bekommen, und es gibt keinen besseren Gast als den kulinarisch affinen Menschen, weil er das Authentische sucht und sich mit unserer kulinarischen DNA auseinandersetzt.

Gelingt es mittlerweile, den Gast aus genussaffinen Ländern zu uns zu bringen?

REITBAUER: Vor 20 Jahren kam der klassische internationale Gast aus Amerika, Frankreich und Italien. Das hat sich gewandelt. Heute kommen Besucher aus den nordischen Ländern, Südamerika und Asien. Es gibt eine neue Generation von kulinarisch interessierten Menschen.

Ausgezeichnet: Birgit und Heinz Reitbauer bei der Präsentation des Falstaff-Restaurantguide am Dienstag
Ausgezeichnet: Birgit und Heinz Reitbauer bei der Präsentation des Falstaff-Restaurantguide am Dienstag © APA/Andreas Tischler

Will man in einem der besten Restaurants der Welt essen, gibt es Zeitfenster, in denen man online reservieren kann. Oft wartet man Monate. Das Steirereck zählt zu den zehn besten Restaurants der Welt - wie bekommt man einen Tisch bei Ihnen?

REITBAUER: Wir sind keine Freunde von Buchungsfenstern, sondern investieren in Dienstleistung und beschäftigen - neben dem Onlineservice - vier Damen im Büro, um unsere Reservierungslogistik abzuwickeln.

Braucht man als Topbetrieb einen Social-Media-Betreuer?

REITBAUER: Nein, wir sind da ganz schlank. Wir versuchen, das persönlich zu handeln - etwa auf Instagram. Unser Tun liegt ganz woanders - wir sind keine Selbstinszenierer. Wenn Sie so wollen, sind unsere Gäste unsere Social-Media-Betreuer.

Sie führen selbst eine Landwirtschaft am Pogusch.

REITBAUER: Seit 22 Jahren verkaufen wir in unserem Wirtshaus und Restaurant quasi uns selbst, alle Lebensmittel, die wir produzieren, zum Höchstpreis, schaffen es aber nicht im Ansatz, in unserer Landwirtschaft positiv zu wirtschaften. Vielfalt statt Menge - das ist ein kostenintensives Unterfangen. Das sind aber genau die Qualitäten, die wir alle uns wünschen, dieses Fleisch wollen wir essen.

Masse oder Vielfalt - wo geht die Reise hin?

REITBAUER: Seit dem ersten In-vitro-Burger sage ich voraus, dass die Massentierhaltung ein starkes Ablaufdatum hat und sich die Landwirtschaft total verändern wird. Laborfleisch wird in einigen Jahren billiger sein als jedes gezüchtete. Das wirft die Frage auf, welchen Einfluss dies auf unsere Kulturlandschaft haben wird. Wo kann sich Österreich richtig spezialisieren? Ich kenne keine Vision bzw. einen langfristigen Masterplan, in welche Richtung sich unser Land entwickeln will.

Es "Schmeckt perfekt" ab 3. April: Heinz Reitbauer - hier mit Hannes Müller - in der neuen Kochsendung in ORF 2
Es "Schmeckt perfekt" ab 3. April: Heinz Reitbauer - hier mit Hannes Müller - in der neuen Kochsendung in ORF 2 © Hans Leitner/ORF

Wie kriegen wir die Kurve?

REITBAUER: Dieses Thema ist weltumfassend und wird sicherlich in den kommenden Jahrzehnten die Nahrungsmittelproduktion vollkommen verändern. Wir sollten in eine Bewusstseinsbildung für Lebensmittel, eine Weiterentwicklung von Küche und Landwirtschaft sowie eine größtmögliche Vernetzung, um Ressourcen noch besser nützen zu können, investieren. Denn diese Weiterentwicklung wird ein wesentliches Zukunftsthema für unser Land und unseren Tourismus sein.

Wo setzt man also konkret an?

REITBAUER: Bei den Kindern und uns selbst. Wenn wir anfangen, eine neue Wertschätzung für unsere Lebensmittel zu generieren, kaufen wir irgendwann nicht mehr drei zum Preis von zwei oder lassen unseren Kühlschrankinhalt vergammeln. Wir fangen, eventuell wieder selber anzubauen, und achten darauf, was wir essen. Nur das ist langfristig fruchtbar. Und: Ähnlich wie die Gastronomie ist auch die Landwirtschaft oft nur mit der gesamten Familie stemmbar, mit vollkommener Hingabe oder gar nicht. Über diese Dinge müssen wir uns Gedanken machen - wie können wir die Menschen in diesen Bereichen unterstützen?

Die Wertschätzung fängt beim Anbau an.

REITBAUER: Genau, es gibt aber - etwa bei Mehl - kein Qualitätsbewusstsein - das wird Köche auch nicht gelehrt. Es gibt auch keine fundierte Aufarbeitung der österreichischen Küche.

Wenn man Österreich kulinarisch weiterentwickeln will, braucht man also ...?

REITBAUER: Ein zeitgemäßes Werk über die österreichische Küche könnte helfen. Was sind unsere Gerichte in welchen Regionen? Wofür steht Österreich? Wie werden die Gerichte richtig gekocht? Da gehören die profundesten und intelligentesten Menschen aus den einzelnen Regionen zusammengespannt, die Rezepte entwickeln, die für jeden nachkochbar sind. Was ist wirklich ein super Gulasch? Ein nachkochbares perfektes Rezept ist ein Goldschatz.

Kann man Klassiker überhaupt weiterentwickeln?

Warum sollte man überhaupt auf heimisches Fleisch fürs Gulasch setzen?

REITBAUER: Wenn ich will, dass sich in meinem Land etwas entwickelt, muss man zu etwas stehen. Wir können nur ein Produkt schützen und eine Landwirtschaft fördern - und damit als Land ein eigenes Profil entwickeln -, wenn wir auch das essen, was in unserem Land angebaut/gezüchtet wird. Sonst haben wir über kurz oder lang nur einen großen Zoo.

Sie haben einmal gesagt, man könne das Beste aus jedem Trend - ob Molekularküche oder nordische - für sich herausfiltern, ohne auf den Zug aufspringen zu müssen. Welcher Trend zeichnet sich denn nun ab?

REITBAUER: Natürlich suchen wieder alle das neue Große, über das man berichten kann. Für mich ist es aber auch ein gefährliches Spiel. Ja, Worte wie Regionalität oder Nachhaltigkeit kann niemand mehr hören, aber ich glaube, wir kratzen nach wie vor an der Oberfläche. Wir beschäftigen uns seit fast drei Jahren intensiv mit dem Thema Pilze, haben ein Netzwerk aus Züchtern und Sammlern aufgebaut. Jeder kennt eine Handvoll Pilze, aber allein in Mitteleuropa gibt es 5000 Großpilzarten, 100.000 weltweit. Im Vergleich gibt es rund 3000 Blühstraucharten. Für uns sind Pilze ein Zukunftsthema - das ist nur ein Beispiel, wo man viel tiefer gehen kann.

Kühe kann nicht jeder halten, aber eine Pilzkultur kann sich jeder auf kleinem Raum anlegen. Könnte das vom Produktverständnis her ein Missing Link zum Konsumenten sein?

REITBAUER: Jeder, der sich mit qualitativen Lebensmitteln beschäftigt, wird kulinarisch offener. Wenn wir eine Speise mit Reizkern auf der Karte haben und zur Auswahl eines mit Paradeisern, entscheiden sich rund 80 Prozent unserer Gäste für das Pilzgericht. Die Menschen sind offener anderen Geschmäckern gegenüber geworden. Bei dieser Veränderung kann die Gastronomie eine zentrale Rolle übernehmen.