Die Digitalisierung verändert unser Leben - wie wird diese Veränderung im Gesundheitswesen aussehen?

Eva-Maria Kirchberger: Die größte Veränderung wird die Verlagerung vom physischen in den digitalen Raum sein. Gesundheit wird immer weniger mit Gebäuden, mit Krankenhäusern zu tun haben und immer mehr mit Software. Das sehen wir in anderen Industrien: Viele der führenden Firmen haben heute kein Kapital mehr im Sinne von Maschinen, die man angreifen kann. Sie entwickeln Algorithmen, arbeiten auf digitalen Plattformen und verknüpfen Dienstleistungen. Der Gesundheitsbereich ist da noch eine schlafende Branche.

Doch was bedeutet das für den Patienten?

Kirchberger: Alles wird patientenorientierter und mobiler. Es werden heute schon zu gewissen Krankheiten Genprofile erstellt, dadurch können Medikamente passgenau zugeschnitten werden. Ich kann jetzt schon messen, wie ein Medikament bei mir wirkt - und das kann ich durch das Internet überall und zu jeder Zeit machen. Mein Arzt kann das von seiner Praxis aus überwachen. Die zentrale Frage ist: Was braucht der Patient?

Wir gehen nicht mehr zum Arzt, sondern holen uns über mobile Geräte alles zu uns nach Hause. Der Patient ist König?

Kirchberger: Ja, in London, wo ich lebe, ist das zum Teil schon so. Das Gesundheitssystem, das NHS, hat eine Onlineplattform, für die sie Software-Entwickler eingeladen hat, neue Gesundheitsapps zu entwickeln, damit das bankrotte System Geld sparen kann. Vom Patienten wird auch mehr Eigenverantwortung gefordert, er wird dazu gebracht, sich selbst gesund zu erhalten. Dafür muss er digitale Hilfsmittel verwenden, mit denen er selbst Blutzucker oder Blutdruck überwacht, damit er nicht krank wird. Wenn du Zielwerte nicht erreichst, wirst du in Zukunft mehr Versicherung bezahlen. GÜNTHER Schreiber: In der Schweiz geht es auch in diese Richtung: Je seltener ein Patient kommt, desto gesünder ist er und desto mehr verdient der Arzt. Man geht also weg vom Konzept: Je mehr Patienten und je öfter sie kommen, desto mehr bekommt der Arzt, hin zu: Je gesünder der Patient ist, desto mehr Geld bleibt dem Arzt.

Herr Schreiber, wie sehen Sie als gelernter Hausarzt die Digitalisierung im Patientenkontakt?

Schreiber: Durch neue Technologien haben wir ganz andere Möglichkeiten der Betreuung aus der Ferne, was eine große Erleichterung sein kann. Problematisch wird aber, dass wir permanent Doktor-Google-Experten gegenübersitzen.

Eva-Maria Kirchberger und Günther Schreiber
Eva-Maria Kirchberger und Günther Schreiber © qualityaustria Gesundheitsforum

Der Arzt verliert also seinen Wissensvorsprung?

Schreiber: Ja, die Autorität des Arztes ist passé. Bisher war der Wissensunterschied festgelegt: Mediziner weiß viel, Patient weiß wenig. Jetzt sitze ich Patienten gegenüber, die mir ihre Symptome beschreiben und zwölf Differenzialdiagnosen dazu präsentieren. Diese Diskussion wird mühsam. Auch mit dem Supercomputer Watson kann ich nicht konkurrieren, das Machtgefüge beginnt sich zu verschieben.

Welche Rolle wird der Arzt dann in Zukunft haben?

Schreiber: Er wird begleiten, unterstützen, die Entscheidungen auf Basis der verfügbaren Information klären und seine persönlichen Erfahrungen einbringen. Denn ich bin der Meinung, dass der menschliche Kontakt nicht ersetzt werden kann. Kirchberger: Die Entwickler von Gesundheitsapps würden darauf erwidern: In der Vergangenheit hast du dich an einen einzelnen Arzt gewandt, der aus seiner subjektiven Erfahrung vielleicht 2000 Patientenfälle kennt. Aufgrund dieser Erfahrung sagt er dir, was du machen sollst. In Zukunft hast du aber Zugriff auf 200 Millionen Studien, die der Computer auswertet und ausspuckt, darauf, welche Therapie die besten Heilungschancen hat. Du hast das geballte Wissen der Welt und bist nicht mehr abhängig von einer Person. Der Idealfall wäre, wenn beides zusammenspielt: Der Arzt agiert wie ein Coach.

Schreiber: Behandlung bedeutet ja auch Hand anlegen. Doch es ist ja schon jetzt so, dass man sich in der Praxis gerade noch die Hand gibt. Dann werden Knöpfe am Computer gedrückt, Befunde ausgewertet und ein Rezept ausgedruckt. Der Mensch wird nicht als Ganzes wahrgenommen.

Kirchberger: Das ist ja auch der Grund, warum Homöopathen und Chiropraktiker so beliebt sind. Die Menschen sehnen sich danach, dass sich jemand Zeit für sie nimmt.

Es gibt kaum heiklere Daten als Gesundheitsdaten: Was sind beim Datenschutz die größten Gefahren?

Kirchberger: Es gibt Gesundheitsapps, die all meine Daten sammeln, bei denen ich mich sogar via Facebook anmelden kann. Wenn ich so eine App nutze, gibt es niemanden, der mich schützt, wenn die Firma im Silicon Valley oder in China sitzt. Es braucht ein Datenschutzteam in der Regierung, das solche Apps kontrolliert, zulässt und überwacht, was mit den Daten passiert. Man darf der Technik nicht hinterherhinken, sondern muss einen Schritt voraus sein.

Ist Österreich vorbereitet auf das, was auf uns zukommt?

Schreiber: Wir haben einen unglaublichen Nachholbedarf bei der Technik, wir hinken fünf bis sieben Jahre hinterher. Zwar gibt es in manchen Einrichtungen gute „Insellösungen“, das Gesamtkonzept fehlt aber. Dafür müsste man einmal Geld in die Hand nehmen.