Herr Raimann, Essstörungen scheinen ein Phänomen unserer Zeit zu sein - woran liegt das?

GUSTAV RAIMANN: In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der Betroffenen tatsächlich verzehnfacht. Die Häufigkeit nimmt deutlich zu und das ist ein gesellschaftliches Phänomen. Das Essen wird immer unorthodoxer, es wird kaum noch frisch gekocht, es gibt viele Fertiggerichte, Essen wird immer virtueller. Wir sehen auch, dass in Ländern, die vom Entwicklungsland zum Wohlstandsland werden, die Essstörungen zunehmen. Es braucht also Essen im Überfluss, um Essstörungen zu fördern.

Sind Frauen noch immer die Hauptbetroffenen?

Ja, wobei junge Männer bei Essstörungen aufholen: bei der sogenannten Anorexia athletica, wobei Männer, die viel trainieren, ihre Muskeln dadurch sichtbar machen wollen, dass sie möglichst wenig essen und so Fett abbauen.

Welche Rolle spielen unrealistische Körperideale, die in Hochglanzmagazinen oder auf Social-Media-Plattformen propagiert werden?

Das Schlankheitsideal ist ein großer Risikofaktor, gerade für Mädchen in der Pubertät, die diesen Vorbildern nacheifern wollen.

Was ist aber nun die Ursache, die zur Entwicklung der Essstörung führt, und spielen auch die Gene eine Rolle?

Die eine Ursache gibt es nicht, aber es gibt anerkannte Risikofaktoren: das Schlankheitsideal, die Angst vor dem Dicksein und das eingeschränkte Essverhalten, das zu körperlichen Veränderungen führt, die die Spirale in die Sucht weiter antreiben. Wenn der Körper an Gewicht verliert, geht auch Gehirnvolumen verloren. Die hormonellen Veränderungen beeinflussen das Verhalten weiter. Auch seelisch belastende Ereignisse und eine genetische Vorbelastung spielen mit.

Gustav Raimann, Klinikleiter
Gustav Raimann, Klinikleiter © ©helgebauer

Welche Rolle spielt das Essverhalten in der Familie: Kann man zu einer Essstörung erzogen werden?

Ein entspanntes Essverhalten, wo es keine verbotenen Lebensmittel gibt, ist sehr selten geworden. Gemeinsam zu kochen mit frischen Lebensmitteln, sich Zeit fürs Essen zu nehmen und aufzuhören, wenn man satt ist - das ist leider die Seltenheit. Oft sehen wir auch, dass Betroffene im Elternhaus sehr über-behütet werden und keine Möglichkeit haben, sich selbstständig zu entwickeln. Die Essstörung wird dann zum Mittel zur Selbstbestimmung: Dabei können Betroffene selbst entscheiden, wie sie essen.

Welche Therapie kann Betroffenen helfen?

Bei einer schwerwiegenden Essstörung essen die Patienten praktisch nichts mehr, denken aber 24 Stunden pro Tag ans Essen und beschäftigen sich mit ihrem Körper. Sie streben die Selbstbestimmung an, ihr Umfeld ist aber extrem gluckenhaft, da es Angst hat, dass sich Betroffene zu Tode hungern. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, braucht es die stationäre Therapie. In der Klinik können wir gleichzeitig das Gewicht normalisieren und die Hintergründe durch Psychotherapie erforschen. Dazu vereinbaren wir einen Body-Mass-Index, den die Betroffenen erreichen sollen, und trainieren das normale Essverhalten, das ja oft verlernt wurde.

Wie schwierig ist die Therapie? Betroffene kennen ja Tricks, sie trinken Unmengen Wasser vor dem Wiegen, um das Zielgewicht zu erreichen.

Die Betroffenen stecken in einem Dilemma: Einerseits wollen sie gesund werden, andererseits hat ihnen das Abnehmen ein gutes Gefühl gegeben, sie haben die Kontrolle über ihren Körper genossen. Doch bei den Patienten, die zu uns kommen, ist der Wille, gesund zu werden, größer. Auch sind die Patienten bei uns 18 Stunden pro Tag in der Gruppe und unter Aufsicht. Es gibt kaum Schlupflöcher.