Herr Schweitzer, Sie und Ihre Frau haben Medizin studiert, nach der Lektüre des Buches könnte man jedoch denken, dass der eigene Körper der bessere Arzt ist. Stimmt dieser Eindruck?

Jan Schweitzer: Man sollte das Vertrauen in den eigenen Körper stärken. Die meisten Beschwerden, mit denen wir in unserem Alter zu tun haben, kann der Körper selbst regeln. Viele Menschen rennen trotzdem zum Arzt. Natürlich gibt es Krankheiten, die unbedingt in die Hände eines Arztes gehören: Krebs muss in spezialisierten Zentren behandelt werden, Diabetes ebenso. Wenn man plötzlich steigendes Fieber oder starke Schmerzen hat, soll man sofort zum Arzt gehen. Aber bei vielen Beschwerdebildern kann man abwarten.

Als Beispiel nennen Sie das Volksleiden Rückenschmerz: Was läuft hier falsch?

Jan Schweitzer: Sitzt ein Patient mit Rückenschmerzen drei Stunden im Wartezimmer, hat der Arzt das Gefühl, dass er ihm nicht einfach sagen kann: Warten wir ab. Das sollte er eigentlich tun, denn bei 90 Prozent der Betroffenen verschwinden Rückenschmerzen nach sechs Wochen von selbst. Doch der Patient will, dass der Arzt etwas unternimmt. Der Arzt macht eine Röntgenaufnahme, findet eine Abnützung und sagt: „Ich habe die Ursache.“ Dass diese Abnützung aber wahrscheinlich nichts mit den Schmerzen zu tun hat, ist beiden nicht klar. Macht man bei gesunden Menschen ein Röntgen der Wirbelsäule, findet man bei 20 Prozent der 20-Jährigen und 40 Prozent der 40-Jährigen etwas, ohne dass diese Schmerzen haben. Wer sucht, der findet.

Die Autoren, Mediziner und Journalisten Jan und Ragnhild Schweitzer
Die Autoren, Mediziner und Journalisten Jan und Ragnhild Schweitzer © (c) Eva Häberle

Wer ist schuld an diesem Überaktionismus: der Patient, der nicht krank sein will, oder der Arzt, der etwas tun will?

Jan Schweitzer: Ich denke, es sind beide. Beide haben das Gefühl, dass etwas getan werden muss. Viele Patienten trauen ihrem Körper nicht oder wollen schnell wieder fit sein, weil sie es sich nicht leisten können, krank zu sein. Doch der Arzt muss letztlich entscheiden. Er hat die Verantwortung, dass nichts getan wird, was nicht getan werden muss.

Sie beschreiben die Praxis des „watchful waiting“, des beobachtenden Abwartens. Bei welchen Beschwerdebildern ist das besonders empfehlenswert?

Jan Schweitzer: Neben Rückenschmerzen sind das zum Beispiel Erkältungen, die von selbst abklingen, trotzdem werden sie mit Antibiotika behandelt. Ein anderes Beispiel ist die Knie-Arthrose, der Verschleiß im Gelenk. Die verschwindet leider nicht von selbst, wird aber durch all die Dinge, die Ärzte versuchen – Spritzen, Hyaluronpräparate, Kniespiegelung – auch nicht besser.

Warum werden diese Dinge trotzdem gemacht? Weil sie Geld bringen?

Jan Schweitzer: Ein Orthopäde verdient natürlich deutlich mehr, wenn er eine Operation wie die Gelenksspiegelung macht, als wenn er dem Patienten sagt: Machen Sie weiter Bewegung, um das Knie zu stärken. Vielleicht hat der Arzt aber auch das Gefühl, dass es etwas bringt – Studien haben aber klar gezeigt, dass der Eingriff keinen langfristigen Nutzen hat.

Ständig hört man, die frühe Diagnose ist so wichtig. Jetzt sagen Sie: Abwarten ist oft die bessere Alternative. Wie passt das zusammen?

Jan Schweitzer: Die frühe Diagnose spielt vor allem in der Krebsfrüherkennung eine Rolle. Das klingt sehr elegant, alles, was man früh entdeckt, ist besser behandelbar. Doch so einfach ist es leider nicht: Die Diagnoseverfahren, wie Bluttests oder Röntgen, sind nicht so gut und man handelt sich viele falsch positive Befunde ein. Das bedeutet, man diagnostiziert etwas, was gar nicht da ist, und so werden Menschen zu Patienten, die gar keine sind.

Jeder Krebspatient, der durch eine Vorsorgemaßnahme gerettet wurde, wird Ihnen widersprechen.

Jan Schweitzer: Ja, der Einzelfall ist eindrücklich. Aber dem gegenüber stehen viele Männer und Frauen, bei denen etwas entdeckt wurde, was gar nichts war. Solche Überdiagnosen führen zu unnötigen Behandlungen, Menschen können bei den Operationen sogar sterben. Daher sollte man sich vor der Untersuchung vom Arzt erklären lassen, welche Risiken es gibt.

Was kann der Patient tun, um nicht in diese Maschinerie zu geraten?

Jan Schweitzer: Bei Erkrankungen, die man selbst als nicht besonders schlimm einschätzt, sollte man sich überlegen, ob es notwendig ist, zum Arzt zu gehen. Beim Arzt sollten Patienten selbstbewusst sein: Wenn man etwas nicht versteht, nachfragen. Eine Frage ist zentral: Bringt das, was Sie vorhaben, mehr Nutzen als Schaden?