Mit dem heutigen Aschermittwoch beginnt die christliche Fastenzeit. Macht Fasten auch ohne religiösen Kontext Sinn?

Hermann Glettler: Ja, ich denke schon. Eine Unterbrechung des Gewohnten tut gut. Es ist notwendig, innerhalb unserer „Zuvielisation“ bewusst etwas wegzulassen. Weniger ist mehr! Damit wächst die Aufmerksamkeit für das Wesentliche. Wir sind doch von einer unbewältigbaren Fülle von Informationen und News zugemüllt. Durch das Fasten wird man innerlich widerständiger gegen das tödliche Zuviel. Fasten heißt wählerisch werden, gute Qualitätsfilter einbauen, um nicht alles in sich hineinzusagen. Fasten befähigt, kritischer und selbstbewusster auszuwählen.

Geht es immer nur um den Verzicht?

Fasten hat keinen Selbstzweck. Durch den Verzicht wird ein innerer Freiraum geschaffen, ein Resonanzraum - wichtig zur Wahrnehmung der Umgebung und Voraussetzung, dass Gott uns zu Herzen sprechen kann.

Hat Fasten auch eine soziale Dimension?

Selbstverständlich. Fasten ist eine Einübung in die Solidarität mit jenen, die sich nicht täglich an einen gedeckten Tisch setzen können. Auf einer Caritas-Reise habe ich im Vorjahr den Südsudan besucht. Ein Land in der Erschöpfung - nicht zuletzt auch durch eine chronische Unter- beziehungsweise Mangelernährung der Bevölkerung. In vielen Regionen gibt es nur dreimal pro Woche eine Mahlzeit. Besonders hart betroffen sind Kinder. Durch das Fasten stellt sich vielleicht eine minimale Ahnung davon ein, was es heißt, Selbstverständliches entbehren zu müssen. Die sozialen Schieflagen unserer Welt verlangen doch nach einer größeren Solidarität.

Welchen Zugang können Menschen zum Fasten finden?

Es gibt viele Zugänge. Nicht wenige sind auch bereit, für ein Fastenseminar im Luxushotel ordentlich Geld in die Hand zu nehmen. Da gibt es schon sehr bizarre Auswüchse. Wichtig ist die Einübung der persönlichen Freiheit, das heißt, zu klären, was man eigentlich will. Ich erinnere mich an einen spontanen, humorvollen Wortwechsel, den ich als Student in Tübingen mit einem deutschen Kollegen hatte. Er sagte: „Fasten bedeutet für mich bewusst essen.“ Ich antwortete nicht ganz wortverlegen: „Fasten bedeutet für mich bewusst nichts essen.“ Wir hatten beide recht.

Fasten liegt im Trend. Wieso ist das so anziehend auch für nicht-gläubige Menschen?

Fasten verspricht eine Entlastung, eine nicht nur auf heruntergekämpfte Kilos bezogene „Daseinserleichterung“. Durch ein paar einfache Maßnahmen kann jeder dazu etwas beitragen. Niemand ist nur ohnmächtig dem Konsumwahn ausgeliefert. Durch eine selbst gewählte Reduktion - von Nahrungsmitteln, Unterhaltungsangeboten, Medien usw. - kehrt das Gefühl zurück, das eigene Leben gestalten beziehungsweise einen höheren Grad an Lebenszufriedenheit erreichen zu können. Fasten ist ein gutes Training für ein Plus an Selbstbestimmung inmitten einer nervösen Betriebsamkeit unserer Zeit.

Könnte das Fasten ein Anknüpfungspunkt für Kirchenferne an die Kirche und ein Religionsdialog sein?

Ja. Es geht um eine Befähigung zum Leben. Leben heißt, in Freiheit wählen zu können. Fasten ist eine spirituelle Übung, unsere ursprüngliche Genussfähigkeit wieder zu steigern. Außerdem können wir von der Fastenpraxis der Muslime einiges lernen. Viele von ihnen sind uns vor allem in der Gewissenhaftigkeit und Entschiedenheit beim Fasten ein Vorbild. Das verstehen die Leute instinktiv. Sie lassen sich durch den strengen Verzicht von Gott stören. Um Leuten unsere Fastenzeit zu erklären, habe ich schon gelegentlich gesagt, das ist der katholische Ramadan (lacht).

Wie kann Fasten zum spirituellen Erlebnis werden?

Durch bewusstes Nicht-Übertreiben. Fasten ist nicht ein moralischer Hochleistungsbewerb. Es geht um eine Schulung der geistlichen Aufmerksamkeit für das Leben, das uns von Gott geschenkt wurde. Wichtig ist die Mühe um Regelmäßigkeit einer bestimmten Übung. Vor allem der Verzicht auf Rechthaberei und Wichtigtuerei kann zu einem spirituellen Erlebnis werden. Ein Herz, das sich auf Güte und Barmherzigkeit eingeübt hat, wäre wohl der schönste Ertrag einer Fastenzeit.

40 Tage sind eine lange Zeit, da ist die Gefahr des Scheiterns groß. Wie kann man hier gegensteuern?

Das Scheitern gehört zum Fasten dazu. Würde uns alles gelingen, wären wir in Gefahr, überheblich zu werden. Es zählen die vielen kleinen Versuche.

Wie fasten Sie eigentlich persönlich?

Ich habe keine ausgeprägte Fastenkultur. Ich bin mehr auf der Seite der Genießer (lacht) - aber das Leben genießen können ist ja auch eine Frucht des Fastens, nicht wahr? Freitags versuche ich normalerweise, auf eine Kleinigkeit zu verzichten.

Das ist Ihre erste Fastenzeit als Bischof. Werden Sie etwas ändern?

Einen Versuch ist es natürlich wert. Ich habe mir vorgenommen, auf Alkohol und fleischliche Nahrung so gut wie möglich zu verzichten. Das fällt mir nicht leicht, weil sich meine Begabung für eine vegetarische Lebensweise in Grenzen hält. Mal schauen, was gelingt. Ein paar Kilos loszuwerden, wäre ja auch nicht schlecht. Außerdem möchte ich mir regelmäßig wieder eine gute Zeit für das persönliche Gebet sichern.

Wenn Sie auf die Gesellschaft blicken: Welche Fastenvorsätze fallen Ihnen spontan ein?

Smartphonefasten! Die Zeit der Beschäftigung mit diversen Nachrichten auf WhatsApp, Facebook und anderen sozialen Medien drastisch einschränken. Oder zumindest kritischer zu prüfen, welche Botschaft es verdient, mit einem „like“ versehen zu werden. Und es braucht Mutige, die sich mit Zivilcourage für Schwächere einsetzen und auch einem negativen Meinungsdruck Widerstand leisten.

Welche Botschaft möchten Sie Gläubigen gerade zur Fastenzeit mitgeben?

Ich schlage vor, sich ein kleines geistliches Programm zurechtzulegen, um bewusster auf Ostern zuzugehen. Die Fastenzeit bietet die Möglichkeit zu geistlichen Übungen - Exerzitien. Vor allem sollte man versuchen, ein paar Schritte der Versöhnung zu setzen. Das fällt niemandem leicht. Aber wie heilsam! Nie ist ein Mensch so schön, als wenn er verzeiht oder um Verzeihung bittet.