Der Tyrannenkinder-Erziehungsplan - Warum wir für die Erziehung ein neues Menschenbild brauchen und warum die Tyrannenkinder zu den Besten gehören können“ ist der Titel Ihres neuen Buches. Was verstehen Sie unter einem Tyrannenkind?

Martina Leibovici-Mühlberger: Ich sehe im Tyrannenkind den wahren Dissidenten der herrschenden Gesellschaft, ein Kind, das lautstark den bestehenden Erziehungsnotstand durch sich selber Gestalt werden lässt und der Gesellschaft den Spiegel ins Gesicht drückt. Die Botschaft des Tyrannenkindes ist: Du gibst mir keine Führung, also bin ich nicht zu führen.

Warum läuft gerade jetzt so viel falsch im Umgang mit dem Nachwuchs?

Weil viele Eltern im Verhältnis zum Kind lieber die Rolle des Freundes, des Begleiters, des Moderators und Steigbügelhalters einnehmen. Sie scheuen sich, ihre Leitungsfunktion einzunehmen, aus lauter Angst, dass sie sich damit den autoritären Mief umhängen und angegriffen werden könnten. Statt zu leiten, vertrauen diese Eltern auf Selbstregulation, ganz nach dem Motto „Das Kind weiß es doch am besten“. Die Kinder werden gefördert auf Teufel komm raus, und obwohl ganz laut die Entwicklung des Potenzials geschrien wird, entwickeln Kinder starke Defizite und werden in Wirklichkeit vielfach um ihr Potenzial gebracht.

Elternschaft im 21. Jahrhundert braucht Haltung, schreiben Sie. Was kann man sich darunter vorstellen?

Haltung beginnt damit, dass man sich die Rolle als Mutter oder Vater bewusst macht und erkennt, dass man die Verantwortung für das Kind trägt. Doch um diese Verantwortung tragen zu können, muss man sein Kind kennen, man muss sich die Autorität geben, selbst der Experte seines Kindes zu sein. Man braucht kein dreifaches Doktorat, um die Bedürfnisse seines eigenen Kindes erfassen zu können, sondern nur die Zeit, um mit dem Kind zusammenwachsen zu können. Diese Zeit muss man sich geben.

Was muss eine Gesellschaft mitbringen, damit Kinder so aufwachsen können, wie es ihnen zusteht?

Sie muss endlich die Arbeit der Eltern wertschätzen, sie nicht als Freizeitbeschäftigung abtun und den Wert der Familie verankern. Elternschaft kann nicht an Institutionen ausgelagert werden, auch das muss uns allen bewusst werden. Es kann nicht sein, dass Kinderkriegen nur dann super ist, wenn mein Unternehmen eine Krabbelstube und einen Kindergarten hat. Wichtig wäre außerdem, die Familie von der Kommerzialisierungsachse wegzubekommen, denn derzeit spielt sie nur als Konsumträger eine Rolle.

Kinder brauchen ihre Großeltern, auch dafür sprechen Sie sich aus. Warum sind Oma und Opa wichtig für ein Kind?

Großeltern gehen tief in unsere Familie zurück, das ist die tiefste Wurzel, die wir haben, damit ist unsere Identität verankert. Gerade Kindern gibt das Vertrauen in die Zukunft. Außerdem leben wir in einer Zeit der raschen Veränderung, jede zweite Ehe wird geschieden. Wenn Großeltern ihre Funktion verstehen und sich nicht in einen Scheidungskrieg hineinziehen lassen, sondern für ihre Enkel die Garanten dafür sein wollen, dass es Frieden und Zukunft geben kann, können Oma und Opa wesentliche Trägerfiguren sein, wo Kinder ihr Herz ausschütten, wo man manche Dinge vielleicht besser besprechen kann als mit Mama und Papa. Großeltern sehen allein aufgrund ihres Alters Dinge anders als die Eltern, auch das ist wichtig für Kinder!

Es braucht ein neues Menschenbild, ist Ihr Credo. Dieses Menschenbild der nächsten Generation muss einem neuen Bewusstsein verpflichtet sein. Was muss dieser Mensch mitbringen, um uns zu retten?

In meinem Dafürhalten ist das ein Mensch mit hoher sozialer Intelligenz, der über den materiellen Reduktionismus hinausgewachsen ist. Er setzt nicht seine eigenen Interessen um jeden Preis durch. Ich bezeichne diesen Menschen als „Homo Sapiens Socialis“. Bis jetzt war der „Homo Sapiens Bestialis“, der auf das Materielle gesetzt hat, ja durchaus ein erfolgreiches Konzept. Wir haben damit ungemein viel geschaffen, mit hoher Konkurrenz, enormer Durchsetzungskraft und einem narzisstischen Ideal überragende Technologien hervorgebracht. Doch jetzt wird es auf dem Globus eng. Es herrscht Verteilungsungerechtigkeit, die ökologischen Katastrophen nehmen ein immer größeres Ausmaß an. Diese Probleme können nur gemeinschaftlich gelöst werden, in einem neuen Empfinden, das Gemeinschaft über materialistischen Egoismus stellt.

Wie erzieht man Kinder, die später einmal Menschen mit sozialer Intelligenz sind?

Diese Erziehung pflegt unter anderem Ehrlichkeit und den Sinn für Gerechtigkeit, sie unterstützt kritisches und kreatives Denken, lehrt Kinder, unbekannten Situationen ohne Angst zu begegnen, und fördert die Fähigkeit, selbstkritisch und mit Humor die eigenen Stärken und Schwächen zu reflektieren.

Und warum werden Tyrannenkinder darin die Besten sein?

Weil an diesen Kindern vor allem eines auffällig ist: ihre Sensibilität. Es kann gelingen, diese Kinder aus ihrer Sackgasse zu holen, sei es aus eigener Kraft, durch Ereignisse im Leben, ein Einlenken der Eltern zum richtigen Zeitpunkt oder mit therapeutischen Maßnahmen. Jene, die es schaffen, sind besondere junge Menschen, denn sie tragen eine Klarheit in sich, die sie sich mühevoll erkämpft haben. Viele von ihnen zeichnet ein besonderes Bewusstsein und Engagement zu Fragen von Ökologie, Verteilungsgerechtigkeit, Humanismus und Werten aus.

Wird diese Kehrtwende gelingen?

Ärztin und Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger
Ärztin und Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger © KK