Das Gewaltschutzgesetz von 1997 gilt als europäischer Vorreiter und trat vor genau 20 Jahren in Kraft. Für Sie ein Grund zur Freude – oder nicht?

WÖLFL: Auf alle Fälle. Das Gewaltschutzgesetz war der Beginn von zeitgemäßem Opferschutz und damit eines rascheren, faireren Verfahrens bei Fällen von Gewalt in der Familie, also ein richtiger Paradigmenwechsel. Zuvor musste meist die Frau mit den Kindern – in mehr als 90 Prozent der Fälle setzt die Übergriffe ein Mann - die Wohnung verlassen. Mit dem Gewaltschutzgesetz wurde diese Dynamik der Abhängigkeit und Hilflosigkeit durchbrochen, nun spürt an erster Stelle der gewalttätige Partner, der gewalttätige Elternteil die Konsequenzen seines Handelns.

Die Polizei muss in Österreich im Schnitt 23 mal täglich ein Betretungsverbot wegen Gewalt in der Familie aussprechen. Über die Jahre zeigt sich dabei ein stetiger Anstieg, von 3027 im Jahr 2000 bis zu 8637 Wegweisungen im Vorjahr. Was sind die Gründe für diesen Anstieg?

WÖLFL: Hier hat sich viel getan, der Umgang mit Gewalt in der Familie wurde beispielsweise Teil der Polizeiausbildung. Auch das vermehrt Polizistinnen Teil der Teams sind, die über Wegweisungen entscheiden, hat wohl dazu beigetragen, dass diesem Problem viel nüchterner, professioneller begegnet wird. Überhaupt hat sich das Bewusstsein bezüglich Gewalt in der Erziehung grundlegend geändert. Vor 30, 40, 50 Jahren hat man vielleicht noch aus Überzeugung eine Ohrfeige gegeben, heute geschieht das eher aus Überforderung, beispielsweise bei beruflichem Stress. Der Druck auf die Menschen nimmt zu, bestehende Rollenbilder werden brüchig, das zeigt sich manchmal auch in Gewaltausbrüchen. Grundsätzlich stellen wir aber fest, dass physische Gewalt tendenziell abnimmt. Und ja, das hätte ich als Psychologin früher nicht gedacht, aber Gesetze helfen! Das sieht man in Österreich oder in den skandinavischen Ländern, wo es ein gesetzliches Verbot von Gewaltanwendung in der Erziehung gibt - im Gegensatz etwa zu Frankreich oder Spanien.

Hedwig Wölfl leitet mehrere Kinderschutzzentren in Wien und Niederösterreich ("die möwe")
Hedwig Wölfl leitet mehrere Kinderschutzzentren in Wien und Niederösterreich ("die möwe") © KK

Wir führten im Herbst eine Umfrage durch, da gaben zwei Drittel der älteren Befragten an, in der Kindheit keine Gewalt erfahren zu haben. Erst bei näherem Nachfragen geben sie an, einen Klaps, eine Ohrfeige erhalten zu haben - das wird oft bagatellisiert. Heute haben Kinder ein viel höheres Unrechtsbewusstsein, sie wissen, dass sie nicht vom Lehrer geschlagen werden dürfen. Grundsätzlich ist auch die Bereitschaft gestiegen, sich beraten zu lassen und sich Hilfe zu holen. Unser Anliegen als Kinderschutzzentren ist es auch, präventiv zu wirken, so dass es gar nicht zu einer Überforderung und in weiterer Folge vielleicht zur Anwendung von Gewalt kommt. Da gibt es Projekte in Schulen und Kindergärten - oder auch die österreichweite Initiative "Frühe Hilfen", bei der wir Schwangere und Familien mit kleinen Kindern bis zu drei Jahren unterstützen. Menschen wachsen nicht mehr wie früher in Großfamilien mit Geschwistern und Cousins auf. Dann kommt es durchaus vor, dass das erste Baby, das eine 37-jährige Frau im Arm hält, ihr eigens ist. Erziehung, der Umgang mit einem Baby, muss gelernt werden, durch gegenseitiges Abschauen, durch Lernen voneinander.

Hat sich auch die Form der Gewalt gegen Kinder geändert?

WÖLFL: Ein Bereich, der uns immer stärker beschäftigt, ist etwa die emotionale Vernachlässigung, hier kommt es zudem weniger zu Anzeigen. Das betrifft auch durchaus besser gebildete Eltern, Familien, wo das Materielle vielleicht nicht so das Problem ist, aber wenig gemeinsame Zeit mit den Kindern verbracht wird, es zu einer Verarmung des Miteinanders kommt. Die Kinder werden teils überbehütet, dann auch wieder überfordert und alleingelassen, das hat auch, aber nicht nur, mit den neuen Sozialen Medien zu tun. Ich hatte jetzt ein älteres Mädchen in einer Therapiestunde mit einem neuen Zungenpiercing. Als ich sie dann darauf ansprach, sagte sie, dass sie es seit einer Woche habe, ihre Eltern es aber noch gar nicht bemerkt hätten. Ein ganz anderes Problem sind Helikopter-Eltern, etwa Väter, die per GPS am Handy genau wissen, auf welcher Straße ihr Kind gerade geht. Das ist bei einer Siebenjährigen, die erst ihren Schulweg kennenlernt, vielleicht noch in Ordnung, bei einer Zehn-, Elfjährigen aber schon problematischer. Die Bandbreite des Umgangs mit Kindern wird größer, das führt dann auch zu Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, etwa wenn Eltern hohe Ansprüche an sich selbst haben, alles richtig zu machen.

Gibt es Kinder, die ihrer Erfahrung nach stärker und öfter von Gewalt betroffen sind – oder zieht sich das durch alle Bevölkerungsgruppen?

WÖLFL: Wir beobachten jedenfalls, dass existenzielle Krisen oder ökonomische Engpässe wie Arbeitslosigkeit oder eine unsichere Wohnsituation Gewalt fördern - aber auch wenn die Kinder chronisch erkrankt, behindert sind oder Entwicklungsstörungen haben. Ein höheres Risiko gibt es auch bei Eltern mit psychischen Belastungen oder Suchterkrankungen.

Wird auch Gewalt vererbt?

WÖLFL: Nun, es kommt durchaus vor, dass Erwachsene, die in der Kindheit Gewaltsituationen oder Vernachlässigung erlebten, bei ihren eigenen Kindern ganz bewusst sagen, "So will ich das nicht machen". Die "Möwe" gibt es seit 27 Jahren, wir haben seit gut fünf Jahren regelmäßig Eltern bei uns, die schon als Kind von uns betreut wurden und sich jetzt beraten lassen. Aber ja, Gewalt wird durchaus "vererbt", Muster wiederholen sich, auch bei sexueller Gewalt - und natürlich geht sexuelle oder körperliche Gewalt immer auch mit psychischer Gewalt einher. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen Opfer von sexueller Gewalt werden. Wir bemerken auch mehr Fälle von sexuellen Übergriffen unter Kindern und Jugendlichen, dazu kommen moderne Formen wie Cyber-Grooming, wenn also Kinder gezielt im Internet angesprochen werden. Leider ist im Bereich sexuelle Gewalt die Dunkelziffer nach wie vor hoch.

Wo bestehen noch Lücken beim Schutz von Kindern vor Gewalt?

WÖLFL: Es braucht eine noch bessere Ausbildung von pädagogischen Fachkräften, also Lehrern und Kindergartenpädagoginnen. Da geht es um den richtigen Umgang bei Verdachtsfällen, um Meldepflichten, wenn etwa dem Turnlehrer bei einem Kind blaue Flecken auffallen oder es zu plötzlichen Verhaltensänderungen kommt. Dann ist es entscheidend, die Kinder- und Jugendhilfe und die Kinderschutzzentren einzuschalten. Wichtig ist auch Zivilcourage per se: Wenn man miterlebt, dass ein Kind an einer Bushaltestelle angeschrien und an den Haaren gezogen wird, hinzugehen und zu sagen, "Sie tun dem Kind weh". Kinderschutzzentren bieten auch eine anonyme Beratung an, wo man sich online melden kann. Eine andere niederschwellige Möglichkeit, sich Hilfe zu holen, ist die Aktion "Rat auf Draht" mit der Telefonnummer 147. Ein Problem ist die "Vergeheimnissung", dass nämlich Kinder aus Scham, aus einem Schuldgefühl heraus unangenehme Vorkommnisse verschweigen, wenn sie beispielsweise Nacktbilder im Internet verschicken.

Thema der heuer erstmals ausgetragenen Kinderschutztagung ist der Komplex Kontaktrecht und Kindeswohl. Wo gibt es in diesem Bereich die größten Schwierigkeiten?

WÖLFL: Trennungen und Scheidungen sind zumeist sehr belastende Situationen für Kinder, vor allem wenn sie bei den Streitereien zu einem Spielball der Eltern werden, zu einer Manipulationsmasse vor Gericht. Verfahren dauern lang, es werden Gutachten geschrieben, bei Kindern unter zwölf Jahren wird nicht immer das Kindeswohl entsprechend berücksichtigt. Den betroffenen Kindern wird das bald zu viel, sie geraten in einen Loyalitätskonflikt: Sie wollen beide Eltern lieb haben, beide schützen. Aber auch hier hat sich in den letzten Jahren viel getan, etwa durch die verpflichtende Beratung vor einer einvernehmlichen Scheidung im Falle minderjähriger Kinder.