Der Advent ist die Zeit der Rituale und Traditionen.
Aber warum sind Rituale so wichtig für Kinder und das Familienleben allgemein?
MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Man kann es sogar so formulieren, dass Rituale noch nie so wichtig  waren wie heute.Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft mit pluralistischen Wertvorstellungen. Diese multikulturelle
Gesellschaft ist sehr schön, aber für das heranwachsende
Kind kann sie Orientierungsschwierigkeiten bedeuten.
Kinder werden im Alltag mit einer Fülle von Normen und
Glaubensgrundsätzen konfrontiert und müssen sich damit
auseinandersetzen. Und sie müssen es schaffen, sich zu positionieren, dafür müssen sie aber in ihrer Kultur gestärkt
sein.

Wie können Eltern ihre Kinder bei diesem Prozess unterstützen?
MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Da hilft Übung. Und ein Ritual ist nichts anderes als eine Einübung. Das Kind weiß, dass zu einer gewissen Zeit gewisse Dinge erwartbar, sicher, konstant und zuverlässig sind. Das
führt dazu, dass man sie trainiert und sich daraus eine Gewohnheit entwickelt. Außerdem verleiht es Sicherheit, wie zum Beispiel ein Einschlafritual. Es ist wie eine Konditionierung, wie der Pawlow’sche Reflex. Es gibt viele Rituale, die aus dem täglichen Leben sind und  Gemeinschaft, Verbundenheit, Geborgenheit oder Sicherheit spenden. Zum Beispiel das gemeinsame Essen.

Im Gegensatz zu den Erwachsenen liebt jedes Kind Weihnachten. Warum verlieren wir mit zunehmendem Alter oftmals die Liebe zu diesem Ritual?
MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Der Advent ist ein saisonales Einstimmungs- und Vorbereitungsritual. Kinder lieben diese Zeit, weil sie eben noch näher beim unmittelbaren Spüren angesiedelt sind. Und weniger von
Erledigungszwängen bestimmt werden, wie zum Beispiel die Eltern, die im Advent viel Stress schönste Freude. Es geht nicht um das materielle Haben oder Bekommen, es geht um diese gemeinsam geteilte Zeit.



Werden Rituale heutzutage in Familien noch gut genug gepflegt?
MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Ich denke, wir gehen heute einen falschen Weg, wenn wir vor lauter Multikulturalität und Beleidigungsangst Traditionen
und Rituale abschaffen oder aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannen wollen. Ich finde es toll, wenn man Kinder mit multikultureller Festkultur konfrontiert.
Ich glaube, dass die Gleichmachung im Sinne von „Das lassen wir weg und es findet nur noch im Privaten statt“
nicht gut ist, weil das Jahr so zu einem uniformen Brei wird.

Kann man es mit Ritualen auch übertreiben?
MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Alles, was zwanghaft ist, wird beschwerlich. Überall dort, wo der Fluss des Lebens in einer Einfassung betoniert werden soll, dort untergraben wir Lebendigkeit und Gestaltungsmöglichkeit. Zwangsrituale sind nicht gut. Es gibt aber nicht nur diese Fest- und Feierrituale, sondern auch Rituale, die den Lebensalltag strukturieren. Das sind Dinge wie Zähneputzen oder Schultascheordnen. Hier brauchen Kinder Anleitung und Unterstützung, damit sie dranbleiben, weil es bedeutet, dass sie eine gewisse Energie investieren müssen.

Was trainiert man mit diesen Strukturritualen?
MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Selbstdisziplinierung, es braucht zwar Zeit und Anleitung, aber man kann wie bei jeder langfristigen Investition sagen, dass es eine hohe Rendite hat. Diese Dinge passieren schließlich einmal automatisiert und kosten keine Energie mehr.

Was passiert, wenn diese nicht eingeübt werden?
MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Vielen Kindern fehlen die Grundlagen, weil man sie heutzutage nicht einschränken will. Ich denke, dass das nicht sinnvoll ist. Das, was ich in meiner Arbeit sehe, sind junge Erwachsene mit schlechten Zähnen, die nicht pünktlich erscheinen können, weil sie nie Selbstmanagement gelernt haben. Junge Menschen, die sich schlussendlich in der Schul- und Arbeitswelt um einiges schwerertun, weil sie oft ihre sieben Zwetschken nicht beisammenhaben. Und dieser Mangel an Selbstdisziplin kann schon zu einer sozialen Behinderung werden.