Kann man Kinder im Säuglingsalter zu sehr verwöhnen, Herr Dr. Brisch?

Karl Heinz Brisch: Nein, man kann Babys gar nicht verwöhnen, sondern man muss ihre Signale wahrnehmen und richtig interpretieren und angemessen und prompt darauf reagieren. Das fördert dann gleichzeitig die sichere Bindungsentwicklung. Kinder weinen nicht ohne Grund, sondern weil sie ein Bedürfnis haben, das sie noch nicht in Worten ausdrücken können. Also brauchen sie Bezugspersonen, das können Eltern oder andere Personen sein, die sie verstehen, die Signale entschlüsseln und dann fein abgestimmt darauf reagieren.

Noch immer hört man als Mutter den Spruch „Schreien macht die Lungen stärker“. Warum hält sich hartnäckig die Meinung, dass man Säuglinge nicht verwöhnen soll?

Weil wir insgesamt eine Gesellschaft sind, die nicht so liebevoll und feinfühlig mit der Welt und miteinander umgeht. Wir hatten Jahrhunderte von Schwarzer Pädagogik, das Ziel war Gehorsam, Unterwerfung und das Brechen des Willens des Kindes. Es ging nicht um eine liebevolle Bindungsentwicklung. Die Kindererziehung im 18. und 19. Jahrhundert war streng und von Gewalt geprägt, dann kam das Buch von Johanna Haarer: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Das war darauf angelegt, Kinder möglichst rasch abzuhärten. Dieses Buch wurde von den Nazis jeder Mutter in die Hand gegeben und nach dem Krieg weiterhin in vielen Städten verteilt. Danach wurde es umbenannt in „Die Mutter und ihr erstes Kind“, die letzte Auflage kam 1978 heraus. Da steht zum Beispiel drinnen: Wenn ein Baby abends gefüttert und gewickelt ist, legt man es in sein Bettchen und geht die ganze Nacht nicht mehr in das Zimmer, auch wenn das Kind noch weint. Denn wenn man doch in das Zimmer geht, verwöhnt man das Baby. Wenn es weint, dann sei das nicht schlimm, dann kräftigt das die Lungen - Frau Haarer war Lungenfachärztin.

Warum sind viele Eltern sehr verunsichert, wenn es um die ersten wichtigen Monate im Leben eines Kindes geht? Fehlt die Erfahrung mit Säuglingen?

Ja, das ist ein Thema. Viele Eltern haben kaum Erfahrung, und das eigene Baby ist dann das erste Baby, das sie auf dem Arm halten und versorgen. Wir haben deswegen die Kurse „Safe - Sichere Ausbildung für Eltern“ geschaffen, wo wir Eltern aller sozialen Schichten die Möglichkeit geben, ab der Schwangerschaft die Signale von Babys zu lernen und sich auch mit der eigenen Geschichte und der der Eltern auseinanderzusetzen. Die Kurse laufen nach der Geburt weiter bis zum Ende des ersten Lebensjahres. In diesen Kursen sehen wir: Wenn Eltern an die Hand genommen werden, lernen sie, liebevoll mit den Kindern umzugehen, selbst dann, wenn die eigene Kindheit höchst schwierig und belastet war. Das heißt, man kann Eltern helfen, über das hinauszuwachsen, was sie selbst erlebt haben. Sonst sehen wir oft, dass Eltern das wiederholen, was sie in ihrer Kindheit schmerzlich erlebt haben - von Vernachlässigung bis hin zu Gewalt - dass sie zwar das Beste für ihr Kind wollen, das aber nicht gut hinbekommen.

Karl Heinz Brisch
Karl Heinz Brisch © Brisch

Welche Rolle können die Väter in diesen wichtigen ersten Monaten und Jahren einnehmen?

Stillen und Füttern ist nur eine Möglichkeit, Bindung mit dem Baby aufzubauen. Wenn Väter das Baby halten, tragen, wickeln, einfach von Haut zu Haut auf ihrer Brust liegen haben und mit dem Baby kuscheln, dann wird auch bei Vätern dieses Oxytocin-Hormon ausgeschüttet, das die Bindung fördert. Väter können auch sehr gut anhand von Videos lernen, mit Babys feinfühlig umzugehen - das haben wir in der Forschung gut nachgewiesen. Damit wird das eine wunderbare und sichere Bindung zwischen dem Kind und dem Vater.

Wie kann man im Alltag die Bindung mit dem Baby stärken?

Es gibt Hunderte Möglichkeiten am Tag, Bindung aufzubauen, weil wir viele Interaktionen mit dem Baby haben. Wickeln, Füttern, Stillen, Trösten - das sind alles Situationen, in denen man die Signale sehen muss. Wenn ich beim Füttern sehe, dass das Baby den Kopf wegdreht, dann muss ich warten. Wenn das Baby beim Einschlafen noch die Hand der Mutter halten möchte, weil die Dunkelheit ihm Angst macht, dann ist es gut, nicht wegzugehen und dem Baby noch Sicherheit zu vermitteln. Rund um die Welt schlafen Kinder zusammen mit ihren Eltern in einem Raum. In Deutschland dagegen müssen sie oft alleine einschlafen und sind in der Nacht getrennt von ihren Eltern.

Wie zeigt sich eine sichere Bindung bei Konflikten, beim sozialen Umgang mit anderen im Kindergartenalter und später?

Das sieht man schon sehr früh, schon ab dem zweiten Lebensjahr. Wenn Kinder bindungssicher sind, dann haben sie eine sichere Basis an Bord, von der aus sie die Welt entdecken können. Sie sind neugierig, sie können lernen, die Gedächtnis-, die Sprachentwicklung, die Lernleistung, Flexibilität, Kreativität - all diese Erfahrungen gehen viel besser und sie sind belastungsresistenter, können mit Stress besser umgehen. Und sie können auch schon im Kindergartenalter empathisch sein. Wir sehen, dass die sicher gebundenen Kinder sich schon in die Innenwelten der anderen hineinfühlen und hineinbegeben können. Bindungsunsichere Kinder können das nicht so gut, bindungsgestörte Kinder können das überhaupt nicht, die haben da größte Schwierigkeiten.

Wie antwortet die Gesellschaft auf die Bedürfnisse der Allerkleinsten?

In unseren Kinderbetreuungssystemen können die Kleinen oftmals diese feinfühligen Erfahrungen des Kindes mit seiner Bindungsperson nicht machen, die es aber braucht, um eine entsprechende Gehirnentwicklung durchmachen zu können, Erfahrungen abzuspeichern und sich wieder daran erinnern zu können. Das alles geht schlecht, wenn Betreuer sechs Kleinkinder gleichzeitig haben - ideal wären zwei bis drei Kinder pro Erzieher. Wir müssen uns vorstellen: Das Baby wird geboren und hat Milliarden von Nervenzellen, die wenig miteinander vernetzt sind. Pro Sekunde werden Tausende von Nervenverbindungen geknüpft - das hängt jetzt davon ab, ob die Umweltbedingungen eben liebevoll, feinfühlig und adäquat sind. Die Erfahrungen werden im Gehirn verankert und verknüpft. Wir müssen der Gesellschaft und den Politikern sagen: Wir brauchen für diese frühen Entwicklungsphasen besser ausgebildete Erzieherinnen und solche, die gut begleitet und unterstützt werden. Für viele Gesellschaften sind die Gehirne der Kinder die Ressource für die nächste Generation. Wenn wir ganze Generationen unter einer nicht ausreichenden Zuwendung aufwachsen lassen, hat das Auswirkungen auf die Zukunft.