Sie wurden vom Österreichischen Skiverband (ÖSV) gebeten, an der Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe mitzuarbeiten. Wie schaut Ihr Auftrag genau aus?

Martina Leibovici-Mühlberger: Ich soll gemeinsam mit einem Team aus vier Leuten die aktuellen Strukturen des ÖSV analysieren, die Trainerstruktur, die Trainingskultur. Dabei sollen wir aber auch einen Blick zurückwerfen, in die fragliche Zeit, also in die 70er-Jahre, und uns ansehen, wie damals trainiert wurde. Mitte Juni soll unser Bericht dazu fertig sein.

Welches Ergebnis soll diese Analyse bringen?

Primär geht es darum, herauszufinden, ob die Strukturen jetzt so angelegt sind, dass sie präventiv wirken, also vor sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch schützen. Der sexuelle Missbrauch ist ja nur eine Version. Dazu analysieren wir die rang- und gruppendynamischen Konzepte im ÖSV, wir führen halboffene Interviews mit unterschiedlichen Personen im ÖSV, mit Trainern in unterschiedlichen Disziplinen, natürlich auch mit Athleten, sehen uns an, wie die Kommunikation abläuft, wie mit Fehlern umgegangen wird, welche Atmosphäre vorherrscht.

Martina Leibovici-Mühlberger
Martina Leibovici-Mühlberger © kk

Welche Strukturen schützen vor Übergriffen am ehesten?

Wir wissen, dass in einer kleineren Gruppe jeder jeden im Augenwinkel hat, dass das soziale Regulativ des Gesehenwerdens eine Art Prävention ist. In größeren Gruppen kann einer leichter übergriffig werden, ohne dass es andere bemerken. Ein Training in kleinen Gruppen ist also schon einmal ein Schutzfaktor. Beim ÖSV haben wir in einer ersten Datensammlung gesehen, dass dort schon seit Längerem in kleinen Gruppen trainiert wird. In den 70er-Jahren war das noch nicht der Fall.

Ist der Sport prädestiniert für sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch?

Dieser Bereich ist nicht unbedingt prädestiniert, wobei natürlich Faktoren vorherrschen, die dazu anregen können, mehr Macht auszuüben oder auch übergriffig zu werden. Im Sport herrscht ein hoher Konkurrenzdruck vor, hinzu kommt das spezifische Talent. Es gibt einen hohen Anreiz, Leistung zu bringen, weil es auch eine hohe Sichtbarkeit gibt, man kommt damit auf die Bühne. Weil es so wahnsinnig schwierig ist, in den Spitzensport zu kommen, stehen Sportler von klein auf unter hohem Druck. Dadurch gibt es auch eine hohe persönliche Abhängigkeit des Einzelnen vom Sport in seiner Lebensplanung, er ist überproportional wichtig für die Identität. All diese Faktoren herrschen natürlich nicht nur im Sport vor, das alles findet man auch im musischen Bereich und vielen anderen Gebieten.

Was braucht ein junger Sportler, um sein Spitzenpotenzial leisten zu können?

Aus der Motivationspsychologie wissen wir, dass ein Mensch, der mit sich in Balance ist, der aus sich heraus leistet, auch der ist, der die beste Leistung bringt. Der geprügelte, der ständig nur unter Angst leistet, schöpft sein Potenzial nicht aus. Wichtig ist dabei auch der Umgang mit Konkurrenz. Im Teamsport sollte also nicht aus der wechselseitigen Konkurrenz heraus agiert werden. Stattdessen braucht es eine Haltung, die die Zusammenarbeit fördert. Wenn das funktioniert, multipliziert sich die Leistung des Teams, das ist längst nachgewiesen.

Wie sollte der Trainer das Team im Bezug auf den Einzelnen sehen?

Als Resonanzkörper, wo sich die Athleten gegenseitig hinaufheben und nicht drücken. Wenn wir füreinander Stressoren sind, drückt das die Leistung. Wenn wir füreinander Motivatoren sind, hebt das die Leistung des Einzelnen und die des Teams. Wichtig dabei ist, wie der Trainer damit umgeht, was unter den Gleichaltrigen passiert, auf dem Spielfeld, in der Kabine. Er kann Konkurrenz untereinander fördern oder ihr entgegenwirken. Genau dafür braucht er aber auch entsprechende Tools. Der Trainer ist die Leitfigur, seine Art der Intervention ist entscheidend.

Wichtig wäre also eine Umgangskultur, die die Konkurrenz entspannt.

Das wären ideale Voraussetzungen, auch als Präventionsmaßnahme. Um das als Trainer, egal in welcher Sportart, leisten zu können, braucht es sicher noch gezieltere Fortbildungen.

Was brauchen Kinder, die in den Sport gehen?

Sie brauchen vernünftige Erwachsene, die sie nicht als Material sehen, nicht als ihre Projektionsfläche für die eigenen unerfüllten Wünsche und unerreichten Ziele. Im Sport, aber auch in allen anderen Bereichen, wäre Elternarbeit wichtig. Denn es gibt Väter und Mütter, die mit Druck arbeiten, mit Liebesentzug, mit negativer Motivation und meinen, damit ihr Kind puschen zu können.

Braucht es einen bestimmten Charakter, um im Spitzensport bestehen zu können?

Sport ist eine hohe disziplinäre Anforderung, und hohe sportliche Leistung braucht Kontinuität, Bereitschaft zum Verzicht, Selbstdisziplin, Selbstüberwindung. Es ist ein spezieller Weg, der, wenn er extrem ist, auch nur für extreme Charaktere geeignet ist. Das sind Menschen, die auch mit diesen Extremen glücklich sind. Kinder müssen ihr Talent von Anfang als Quelle der Freude erleben. Entscheidend dabei ist, wie dieses Talent gelebt wird. Sobald es zur Bürde wird, weil sich das Kind nur noch darüber definiert, alles andere nicht mehr lernen darf, wird es mit extremem Druck belastet. Diese Kinder leiden und da müssen Erwachsene dann rechtzeitig sehen, dass es mehr gibt als nur den Spitzensport. Es liegt also an uns, den Sport so zu strukturieren, dass er für die Kinder freudvoll bleiben kann.