"Babys schreien lassen, das stärkt ihre Lunge." Dass heute noch Verhaltenstipps an Mütter weitergeben werden, die aus der Nazizeit stammen, liegt auch an der sogenannten transgenerativen Übertragung, die ermöglicht, dass uns Dinge belasten, die eigentlich unsere Großeltern erlebt haben.

Manuela Unterleitner: Transgenerative Übertragungen bedeuten immer eine Weitergabe von Beziehungs- und Bindungstraumata. Wenn man selbst keine sichere Bindung erleben durfte, werden unsichere Bindungsstile weitergegeben. Wenn ein Säugling auf die Welt kommt, agiert er über den Körper, da er noch keine Sprache zur Verfügung hat. Er reagiert auf die Mutter: Er hört ihren Sprachrhythmus, nimmt ihre Mimik wahr, imitiert diese und gibt so Signale von sich. Bestenfalls reagiert die Mutter auf die Bedürfnisse des Säuglings und befriedigt diese. Das baut eine sichere Bindung auf. Mit diesem sicheren Hafen geht man in die Welt hinaus und nimmt die Welt grundsätzlich als gut wahr und fühlt sich dort sicher (weg geben). Von diesem sicheren Hafen kann man in die Welt hinaus ziehen, die man als grundsätzlich gut wahrnimmt und in der man sich sicher fühlt.

Schwierig wird es, wenn die Mutter traumatisiert ist. Dann ist sie mit ihrem eigenen Thema zu beschäftigt, um diese „genügend gute Feinfühligkeit“, die man für die sichere Bindung braucht, zu entwickeln. Der Säugling versteht natürlich nicht, was dahinter steckt, sondern denkt, an ihm sei etwas falsch. Der „Fehler“ wird dann ins eigene Selbst des Säuglings integriert und das Trauma, das eigentlich die Mutter erschüttert hat, wird vom Kind als sein eigenes aufgenommen.

Manuela Unterleitner (32, Mutter zweier Kinder) aus Feldkirchen, Studium der Sozialarbeit, Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision. Schwerpunkte: Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt, Elternschaft und Gerontopsychotherapie
Manuela Unterleitner (32, Mutter zweier Kinder) aus Feldkirchen, Studium der Sozialarbeit, Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision. Schwerpunkte: Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt, Elternschaft und Gerontopsychotherapie © Privat

Wie wirkt sich das aus?
Sobald man Dinge aufnimmt, die nicht zu einem selbst gehören, werden auch die Körpergrenzen unklar. Man spürt sich manchmal nicht mehr. Aus der Forschung weiß man, dass Babys von depressiven Müttern häufig sehr ruhig, nicht sehr interessiert sind - sie spiegeln das Verhalten der Mutter. Oder bei Gewalt: Das Kind ist darauf angewiesen von einer Bezugsperson versorgt zu werden, aber gleichzeitig schlägt diese das Kind. Der Vater ist eigentlich der Versorger der Familie, das Kind ist darauf angewiesen, versorgt zu sein, aber gleichzeitig schlägt der Vater das Kind. Man ist abhängig von jemandem, der einem eigentlich Schutz bieten sollte, den man aber fürchten muss. Die Folgen sind bspsw. Bindungsstörungen, unklare Körpergrenzen, Ängste, Misstrauen, Aggressionen, Depressionen.

Was wird von den Vorfahren übertragen?
Wenn zum Beispiel die Großmutter eine Totgeburt hatte, in der Familie aber nie darüber gesprochen wurde, kann dieses unbearbeitete Trauma nachwirken und sich auf die Bindungsfähigkeit der nächsten Generationen auswirken – die Angst wird übertragen, weil das Trauma nicht bewusst aufgearbeitet wurde. Sobald man es aufarbeitet und versteht, löst sich das Thema auf. Sonst wird es immer von Generation zu Generation weiter gegeben. Die eigene Geschichte prägt uns immer, aber die Frage ist, wie man damit umgeht. Nimmt man sein Schicksal bewusst in die Hand, unterbricht man die Spirale.

Es gibt ja noch immer vermeintlich gute Tipps von Großeltern, Babys sollen nicht verwöhnt werden etc.
Jene, die in der Kriegszeit aufgewachsen sind, haben lernen müssen, dass es nicht um die eigenen Bedürfnisse geht, sondern um die Bedürfnisse des Volkes. Mit diesem Ignorieren eigener Bedürfnisse wurde das Bindungsverhalten der Generationen vor uns massiv gestört und das geben sie weiter. Adolf Hitler wollte es so, vor allem die Buben sollten für den Kampf stark gemacht werden. Diese Generation hat häufig nicht gelernt, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu schauen, und spürt oft gar nicht, dass man es wert ist, diese Bedürfnisse zu erfüllen.
Aus der Nazizeit sind ja nicht nur problematische Verhaltensmuster übertragen worden, sondern auch die Traumatisierungen des Krieges. Frauen, die vergewaltigt wurden, Väter, die Nazis waren und daher später (nach der Kriegszeit) nicht als Vorbild dienen konnten und von ihren Söhnen abgelehnt wurden.


Gerade die Väter, die Täter waren, brachten ihre Kinder in einen massiven Loyalitätskonflikt. Eigentlich wollten sie ihren Vater lieben, aber andererseits mussten sie auf Distanz gehen, weil sie die Grausamkeit nicht ertragen konnten. Das erzeugte einen sehr hohen Leidensdruck. In den Familien gab es Lügen, Verharmlosungen, Schuldzuweisungen. Kinder spüren, dass es Geheimnisse gibt und dass Gefühle da sind, die nicht bearbeitet werden.
Massive Traumatisierungen erlebten Frauen auch bei Vergewaltigungen: Als Mütter mussten sie dann Nähe vermeiden, weil sie das aufgrund ihrer Traumatisierung nicht ertragen konnten. Dann fragen sich die Kinder, warum die Mutter sie nicht in den Arm nehmen kann, ob sie nicht geliebt werden. Sie wissen ja nicht, dass der Auslöser dafür in der Mutter steckt und nicht bei ihnen liegt. Alles was keinen Namen kriegt, befeuert die kindliche Fantasie. Und ungesteuerte Fantasie macht Angst. Wenn es wüsste, dass die Mutter etwas Schreckliches erlebt hat, könnte es damit anders (besser) umgehen.

Welche Probleme treten durch unbearbeitete Traumata dann im späteren Lebensalter auf?
Themen, die nicht bearbeitet oder verdrängt werden, kommen sehr häufig im Alter wieder. Ich habe Patientinnen, die in der Demenz mit 80 Jahren glauben, dass sie schwanger sind. Sie hatten eine Fehlgeburt, die nicht verarbeitet wurde, und nun kommt das Thema unter hohem Leidensdruck wieder.
Auch andere Familienmitglieder kann man besser verstehen, wenn man deren Themen kennt, und damit die Brücken zwischen den Generationen schlagen.
Die Beziehung zu Schwiegermüttern ist zum Beispiel oft schwierig, weil die Mütter das Gefühl haben, dass sie ihren Sohn verlieren. Das hat immer mit den persönlichen Verlusterfahrungen zu tun, die in der Vergangenheit gemacht wurden. Wenn zum Beispiel der Mann gestorben ist oder sie eine Scheidung erleben musste und nun wird ihr wieder jemand „weggenommen“. Am besten man spricht es an und zeigt Verständnis, dass es für die Schwiegermutter schwierig ist, den Sohn „herzugeben“. Selbst wenn die Aussprache an der Situation nichts ändert, hilft es der Schwiegertochter oft, besser mit der Situation umzugehen, weil sie nachvollziehen kann, wie es der Mutter geht.

Wie gehe ich mit meinen eigenen Eltern um, wenn sie mich im Alter brauchen?
Bei der Pflege älterer Angehöriger kehrt sich die Eltern-Kind-Beziehung ein Stück weit um. Wenn man von seinen Eltern wenig Liebe und Geborgenheit erfahren hat, sie nun pflegebedürftig sind und man liebevoll auf sie eingehen sollte, merken die erwachsenen Kinder sehr oft, dass sie das nicht schaffen. Die Kränkungen der Kindheit kommen wieder hoch. Man hat aber das Pflichtbewusstsein und glaubt, man muss das schaffen. Oder in der Demenz, die sehr häufig mit Aggressivität einhergeht: Hat man als Kind schon Gewalt erlebt, kommt das wieder hoch. Man sollte auf die eigenen Grenzen achten: Niemand ist gezwungen, seine Eltern zu pflegen.
Hilfreich kann aber ein Gedanke sein: Jede Mutter liebt ihr Kind. Wenn es so aussieht, als würde sie das nicht tun, ist sie meist selbst in großer Not. Manchmal hilft dieser Gedanke vielleicht, um sich als Erwachsener auszusöhnen.