Die Herbstsonne tätschelt die schroffen Bergrücken und hat noch Kraft übrig für die vielen verlassenen Gräben im Miaztål, wie die Einheimischen ihre Gegend nennen. Das Idyll trügt, wie meistens.

Die Landschaft scheint untot. So untot wie die Figuren in Elfriede Jelineks zwischen Neuberg an der Mürz und Mariazell angesiedeltem Gespensterroman „Die Kinder der Toten“ von 1995. Anziehend idyllische Panoramen vor abstoßend aufgelassener Infrastruktur. Es ist, als wären der Landschaft die Erinnerungen eingedroschen worden. Jene an die kaiserlich glorreichen Zeiten, jene an die florierende Forstwirtschaft, aber auch jene an die längst eingestellte Bahnstrecke und den Wegzug der Jungen.

Ausgestorbenheit, die: Der Begriff bekommt hier nun eine neue Bedeutung. Das Untote wird zelebriert: Menschen mit blutigen Wangen und zerrupften Frisuren fallen in Dirndln oder Jankern in längst aufgelassene Gasthäuser ein. Ein Auto liegt - wie von Geisterhand umgekippt - dampfend in der Wiese neben der Bundesstraße, eine Frau kriecht heraus.


Alles Untote. Aber alles nur gespielt: Wanderwege, Straßen, Kuhweiden, Gaststuben oder Waldlichtungen mutieren zum Filmset. Pavol Liska („Wir fühlen uns selber wie Aliens hier“) und Kelly Copper vom Nature Theatre of Oklahoma drehen, sehr frei nach den Motiven des Romans mit der teuflischen Seitenzahl 666, einen Stummfilm auf Super 8. Und die Einheimischen spielen auch mit; verborgen Traktoren, Kettensägen oder Kühe. Die starken Arme der freiwilligen Feuerwehr schubsen ein Auto für eine Unfallszene um, als wäre es ein Spielzeug. Und löschen es nach der Explosion wieder.

Der steirische herbst besetzt die Gegend rund um Kapellen und feiert so den 70. Geburtstag der berühmtesten Person der Region: Elfriede Jelinek. Und bringt ihr Mammutwerk, das so viele Menschen provoziert, obwohl es so wenige kennen, zurück an den Ort, an dem es wurzelt. Gespensterhaft und abrechnungsfreudig kompostiert Jelinek darin rund um einen Ex-B-Kader-Skifahrer und FP-Politiker, eine Sekretärin und eine Philosophiestudentin all die untoten Klischees von Österreich - vom Nationalsport bis zur NS-Verdrängung, von Heimat bis zum Fremdenverkehr, vom Idyll bis zur Naturkatastrophe. Der herbst verortet den Roman neu. Lustvoll und mit Dutzenden Veranstaltungen.

In einem hinreißenden alten Bahnwaggon wird vor dem VAZ in Kapellen - von freitags 12 bis sonntags 12 Uhr - der Roman in 15-minütigen Slots laut vorgelesen. Was für eine Erfahrung, sich Ausschnitte dieses unverwüstbaren, bild- und humorgewaltigen Sprachkolosses einzuverleiben!

144 Stunden dauert die öffentliche Lesung von "Die Kinder der Toten" in Kapellen - mitmachen ausdrücklich erwünscht
144 Stunden dauert die öffentliche Lesung von "Die Kinder der Toten" in Kapellen - mitmachen ausdrücklich erwünscht © JS


Jelinek kennt diese Landschaft und das ruppig morbide Leben seit ihrer Kindheit. Viele ihrer Sommer hat sie im Haus ihrer Großeltern in der Krampen - der Name ist keine literarische Erfindung - verbracht. „Dort drüben steht das Haus“, sagt Renate Dobrovolny und zeigt auf dem Rundwanderweg Tirol in Richtung des Gebäudes. „3 Stunden im Naturtheater“ heißt die Tour, bei der die Naturführerin zu Schauplätzen des Romans lockt. Etwa zur fiktiven Pension Alpenrose. Die Truppe steht vor jenem Gasthaus, das bis Ende der 70er ein beliebtes Ausflugsziel war. Nun steht es schon lange leer. Mit Nebengebäude und 17.000 Quadratmeter Grund wäre es für 690.000 Euro zu haben. „Vieles im Roman hat Jelinek in den Gasthäusern bestimmt so erlebt“, sagt Dobrovolny. Daneben erfährt man von ihr herrliche Anekdoten über die Hintertür der Präsidentenvilla in Mürzsteg, die Saufexzesse der Holzknechte, das tatsächliche Horrordrama der Försterbuben. Der Büchereileiter Erwin Holzer, ein Mitwanderer, erinnert sich an den Roman als Regalhüter. Und immer dann, wenn das Idyll einen kurz einlullt, zieht, wie bestellt, ein einziges grimmiges Wölkchen am Himmel auf oder erkennt man, dass die Bilderbuch-Lichtung von einem Meer hochgiftiger Herbstzeitlosen gesäumt ist. Schön schaurig - ohne oder.

25 Zitate aus Elfriede Jelineks Roman "Die Kinder der Toten" sind im Mürztal plakatiert
25 Zitate aus Elfriede Jelineks Roman "Die Kinder der Toten" sind im Mürztal plakatiert © JS

„Dieses Land schöpft sich mit Leidenschaft aus und druckt sich auf Prospekte“, heißt es in „Die Kinder der Toten“. Ein Poster mit dem Zitat hängt in Kapellen. 25 weitere schmücken Hauswände und Zäune. Mit Genehmigung von Jelinek und auf Wunsch der Besitzer. Vor 22 Jahren wäre das undenkbar gewesen. Wie auch das: „Ich bin stolz auf das Projekt“, sagt Bürgermeister Peter Tautscher bei der Eröffnung gestern, bei der sich Politiker, Trachtenträger, Kultur-Schickeria und Einheimische wunderbar mischten.
Mehr noch: Am 14. Oktober, einen Tag vor der Nationalratswahl, marschieren die Untoten bei einem großen öffentlichen Dreh hier auf. „Es geht um etwas bei diesem Projekt“, sagt einer der Beteiligten nachts, als die Herbstsonne schon längst verschwunden ist. Nicht nur dort.