Vor zehn Jahren, am 23. August 2006, gelang Natascha Kampusch die Flucht aus ihrer über achtjährigen Geiselhaft in Strasshof. Montagabend gab die heute 28-Jährige in "Thema" ORF-Reporter Christoph Feurstein ein Interview. Lesen Sie hier Auszüge aus dem Gespräch:

Natascha Kampusch über das Haus in Strasshof: Es hat so eine unangenehme Ausstrahlung das Haus. Es ist ja so, dass es eigentlich eine Entschädigung sein sollte. Aber es ist ja auch einfach eine Belastung. Im Grunde genommen geht's mir meistens schlecht, wenn ich hier her komme, weil ich mich einfach nicht wohlfühle. Es ist einfach ein fremder Ort, obwohl ich so viele Zeit hier verbracht habe.

Christoph Feurstein: Wie oft und warum kommen Sie jetzt in dieses Haus?

Natascha Kampusch: Vielleicht einmal alle zwei Monate. Immer wenn irgendetwas ist, wie zum Beispiel der Wasserzähler, der getauscht werden muss. Oder der Strom, der abgelesen werden muss. Oder manchmal sind auch Reparaturen am Dach oder im Garten oder so notwendig.

Über ihr Gefängnis: Also hier über diese Stiegen, die sich unter diesen beiden Brettern befinden, konnte man vom Haus aus runter in die Montagegrube, hin zu dem Verlies, das es aber heute nicht mehr gibt. Denn es ist von der Gemeinde verordnet worden, dass es zuzuschütten sei. Das ist 2011 passiert.

Christoph Feurstein: Sie haben gesagt, dass Sie sich manchmal gefühlt haben, wie ein KZ-Opfer.

Natascha Kampusch: Er hat auch immer Vergleiche gezogen und hat das eben gut gefunden, mich auch so zu behandeln. Er war dran interessiert, dass es mir auch so geht wie den Nazi-Opfern . . . durch den Nahrungsentzug und die Demütigung. Und er hat natürlich auch den Hitler bewundert. Er hat versucht, mir so wenig Kleidungsstücke wie möglich zu geben, um eben zu zeigen, dass er der Herr sozusagen ist und ich eigentlich nur Sklave und unterdrückt.

Christoph Feurstein: Wie hat so ein gemeinsames Essen hier in dieser Küche ausgesehen?

Natascha Kampusch: Naja, es war meistens so, dass ich das aufgewärmt hatte, was seine Mutter ihm für die Woche vorbereitet hat oder eben extra was gekocht habe. Und dann hat er immer eine große Portion gegessen und ich durfte dann ein Drittel von dem was er gegessen hat, essen. Ich hatte aber damals vielleicht 36 oder 38 Kilo - dann hat er gemeint: Wenn du jetzt noch mehr isst, kannst du nichts mehr arbeiten und dann bist du so träge oder läufst noch weg oder sonstige Sachen. Er wollte einfach, dass ich so entkräftet wie möglich bin, damit ich mich eben nicht wehren kann. (...) Das hier sind die Räumlichkeiten, in denen sich seine Mutter aufgehalten hat, wenn sie hier übernachtet hat am Wochenende.

Kampusch in der Küche in Strasshof
Kampusch in der Küche in Strasshof © ORF

Christoph Feurstein: Das war jedes Wochenende, oder?

Natascha Kampusch: Genau, sie war jedes Wochenende da und hat dann eben für ihn geputzt, gekocht, vorgekocht für die Woche, gebacken und aufgewaschen. Ich musste immer spätestens am Freitag staubsaugen und aufwaschen. Er wollte eben keine Spuren hinterlassen. Keine Haare oder so etwas.

Christoph Feurstein: Und Sie mussten dann immer ins Verlies.

Natascha Kampusch: Genau.

Christoph Feurstein: Was für ein Verhältnis hatte Wolfgang Priklopil zu seiner Mutter?

Natascha Kampusch: Also ich denke, es war gespalten. Er wollte einfach der Vorzeigesohn bleiben, aber gleichzeitig sich emanzipieren. Also er war ein Muttersöhnchen.

Christoph Feurstein: Ab wann war das circa, dass Sie neben ihm schlafen mussten?

Natascha Kampusch: Etwa ab 2004, ja, weil da konnte er sich dann sicher sein, - ich war ja noch manchmal bei Einkäufen mit - dass man mich nicht wieder erkennt.

Christoph Feurstein: Warum war es Ihnen da nicht möglich wegzulaufen?

Natascha Kampusch: Weil das Zimmer hier zugesperrt war und ich außerdem an ihn gefesselt war. Er hat den Schlüssel auf den Kasten dort oben gelegt und auch die Zange zum Aufzwicken der Kabelbinder und so konnte ich mich natürlich nicht befreien, weil er ja auch ein schwerer, erwachsener Mann an meinem Arm war und ich so nicht weglaufen konnte ohne ihn aufzuwecken.

Christoph Feurstein: War das dann schon langsam die Zeit, wo er Sie zu seiner Frau machen wollte?

Natascha Kampusch: Genau. Ja, das war sein Plan. Er hat wohl gedacht, dass er das irgendwie vertuschen kann, sein Verbrechen, und dass ich dann oben ganz normal lebe und ihn dann vielleicht mit falschen Dokumenten heirate oder sowas. Ich hab dann zum Schein das Ganze gut gefunden, damit ich irgendwann einmal eine Chance bekomme wegzulaufen.

Christoph Feurstein: Sie wollten ja nie über sexuelle Kontakte sprechen. Warum haben Sie sich da immer so bedeckt gehalten?

Natascha Kampusch: Ja, das ist ja klar. Das ist etwas Privates. Die meisten Leute sprechen nicht über das - nicht mal im Freundes- oder Verwandtenkreis. Und wenn so schlimme Sachen passieren, redet man schon überhaupt nicht über so etwas.

Christoph Feurstein: Sind Sie schon so weit, dass eine Beziehung möglich wäre?

Natascha Kampusch: Vielleicht hat das nichts mit der Zeit zu tun, oder mit der Gefangenschaft oder mit dem Alter. Sondern nur etwas mit mir, ob ich dazu bereit bin und ich denke, ich bin schon ein Mensch, der beziehungsfähig ist.

Christoph Feurstein: Liegt es vielleicht eher an den Anderen, die Angst hätten, sich mit Ihnen einzulassen?

Natascha Kampusch: Ich denke schon. Es ist mir oft auch so passiert, dass Leute auf mich zugekommen sind und mich beruhigt haben, dass sie nichts von mir wollen. Oder auch Frauen zu mir sagten: "Du musst dir keine Sorge machen. Es steht sowieso kein Mann auf dich". Und ich war natürlich entsetzt, und hab mich gefragt: Was ist an mir so falsch? Mir war aber dann schnell klar, dass die Person mich einfach beruhigen wollte, dass mir nichts Böses mehr zustößt, dass ich jetzt für immer beschützt bin, dass man mich quasi als ewiges Kind sieht und dass man auf gar keinen Fall alte Wunden oder sowas aufreißen möchte.

Christoph Feurstein: Haben Sie sich seit Ihrer Flucht vor zehn Jahren jemals frei gefühlt?

Natascha Kampusch: So richtig frei, vielleicht nur in ganz wenigen Momenten. Aber es war auch ein Gefängnis, in das ich da wieder zurückgekehrt bin. Ein Gefängnis der Urteile und Verurteilungen. Ein Gefängnis der Gesellschaft.

Christoph Feurstein: Welche Rolle spielt Therapie noch in Ihrem Leben?

Natascha Kampusch: Eine wichtige Rolle. Und zwar ist es mir deshalb so wichtig - nicht aus dem Grund, dass ich sonst irgendwie keine Lebensperspektive hätte oder dass ich nicht wüsste, wie ich mein Leben gestalten soll oder wo ich hin soll mit meinen Emotionen und so - aber Therapie ist einfach so toll, weil man da in die vielen Räume des eigenen Bewusstseins schauen kann. Weil man sich dann immer mehr seiner Selbst bewusst sein kann, bewusst werden kann und das ist so schön.