Er solle doch, riet Otto Wagner dem jungen Maler, prominente Wiener porträtieren, „und zwar mindestens ein Dutzend, wenn nicht lieber zwei“. So könne er „mit einem Schlag bekannt werden und daraufhin auch Aufträge erhalten und Käufer finden für Gemälde, welche Sie sonst noch schaffen“.


Angenommen hat Egon Schiele Wagners PR-Tipp offensichtlich nicht; bloße Abbilder zu malen hat ihn wohl zu wenig interessiert. Entsprechend wenige Porträts finden sich unter seinen rund 330 erhaltenen Gemälden und gut 3000 Papierarbeiten. Umso bemerkenswerter, dass unter den Bildern, die das Wiener Leopold Museum nun in seiner Jubiläumsschau zum 100. Todestag des Malers zeigt, auch eines zu finden ist, das seit 1930 nicht mehr in Österreich war: das „Porträt des Dr. Erwin von Graff“ aus der Neuen Galerie in New York.

Populäre Werke


Auch sonst ist die Ausstellung groß bestückt. Vor allem aus der einzigartigen Sammlung des Museums natürlich sowie aus jener Sammlung, die dessen Gründer Rudolf Leopold anlegte, nachdem er seine ursprüngliche Sammlung dem Museum gestiftet hatte. Etliche populärste Werke sind zu sehen, „Selbstbildnis mit gestreiftem Hemd“ von 1910, „Sitzender Akt“ und „Kardinal und Nonne“ von 1912, das zum Restitutionsfall gewordene „Bildnis Wally“. Nicht nur davor bilden sich Menschentrauben: Vor dem unvollendet gebliebenen Gemälde „Drei stehende Frauen“ von 1918 sieht man kichernde Schülerinnen aus Frankreich die Umarmungen der Nackten nachstellen.

© Leopold Museum


70 Gemälde und 70 Zeichnungen bzw. Aquarelle versammelt der großzügige Rundgang, die Papierarbeiten werden aus restauratorischer Vorsicht alle drei Monate ausgetauscht. Es ist ja genug da, und wer will, sagt Museumschef Hans-Peter Wipplinger, sieht so bis 4. November „gleich drei Ausstellungen“.
Aber wie einem so breitenwirksamen, viel gezeigten Künstler noch neue Aspekte abringen? Die Albertina inszenierte Schiele im Vorjahr als „Ethiker und Moralisten“; im Leopold Museum streift der Besucher nun durch Themenlandschaften und Entwicklungsphasen des Künstlers. Dem „Selbst“ und dem „Ich“, der Auseinandersetzung mit den eigenen Innenwelten und radikaler Körperlichkeit also, sind zentrale Räume gewidmet, detto seinen Landschaften und Städtebildern, der Spiritualität, den Frauen, der obsessiven Beschäftigung mit der kindlichen Erotik. Zumindest eine chronologische Ahnung ergibt sich aus dieser Anordnung, parallel dokumentieren ausgestellte Notizen, Briefwechsel und Fotografien die Biografie des Künstlers.

Neue Facetten


„Beneidet die, welche in Allem in der Welt Schönes sehen“, schrieb Schiele 1912 in sein Tagebuch. Im selben Jahr kam er wegen Verdachts auf Entführung einer Minderjährigen, Schändung und Verletzung der Sittlichkeit ins Gefängnis (und wurde später rehabilitiert). Es blieben sechs Jahre, Bahnbrechendes zu schaffen. 1918 starb Schiele kurz nach seiner Frau Edith an der spanischen Grippe. Die Jubiläumsschau nun präsentiert ein Werk, dessen emotionale Intensität, Fragilität, sinnliche Körperlichkeit noch immer neue Facetten zeigt, derart betörend gefasst umso mehr.