Auch 20 Jahre nach ihrer Entführung und zwölf Jahre nach ihrer Befreiung kommt Natascha Kampusch nicht zur Ruhe. Speziell online wird sie regelmäßig beschimpft. „Geh zurück in den Keller!“, heißt es da etwa. Ja, Opfer haben gefälligst Opfer zu bleiben. Daran muss man unweigerlich in der Schlussszene von „Ariane et Barbe-Bleue“ an der Grazer Oper denken, wenn die blutige Geschichte (k)einer Emanzipation zu Ende geht: Blaubart, so etwas wie ein Urahne von Josef Fritzl und Jack Unterweger, ist zwar besiegt. Aber nun rückt das Bauernvolk, das an seinem Sturz mitgewirkt hat, bedrohlich näher heran – an jene sechs Ehefrauen, die der Herzog in Verliesen wie Sklavinnen gehalten hat, die letztlich Gefangene aber wohl auch ihrer selbst sind und bleiben. Und vor allem an Ariane, die ihre Selbstbestimmung sucht und nun erneut auf Fremdbestimmer trifft. Die nächsten Kerkermeister, Mörder?

Paul Dukas (1865–1935) schrieb „Ariane et Barbe-Bleue“ im Jahr 1907 und verwendete dazu mit kleinen Veränderungen Maurice Maeterlincks gleichnamiges, rätselhaftes Drama. Basis ist das Volksmärchen vom Frauenmörder Herzog Blaubart, hier vermischt mit dem antiken Ariadne-Mythos. Der französische Komponist stimmt in seiner einzigen Oper ein Loblied auf den Ungehorsam an, indem er eine starke Frau zeigt, die sich über das Verbot ihres Ehemanns Blaubart hinwegsetzt, eine geheimnisvolle Tür in seinem Schloss zu öffnen, und ihre verschwundenen Vorgängerinnen aufspüren will.

Nadja Loschky versucht erst gar nicht, das Kryptische in dem Dreiakter zu entschlüsseln. Im Gegenteil: Die Berliner Regisseurin schürt noch das Geheimnisvolle, schickt die Figuren wie durch einen Absinthrausch. Hier, „wo der Tod wohnt“, torkelt jeder, ist alles verrutscht, nichts im Lot. Das unterstreicht auch Katrin Lea Tag (Ring-Award-Siegerin 1997) mit einem imposanten schrägen Bühnenrondeau. In Loschkys magischem Gespensterreigen, nur durch ein paar Banalitäten durchbrochen, steigt Ariane hinab in die verbotenen Keller und entdeckt die sechs vermeintlich toten Frauen, die Blaubart vor ihr verfielen. Als eine Art Orphea will sie ihre doppelgängerischen, naiven „Schwestern“ aus der Unterwelt führen, vorbei am Höllenhund Blaubart, „vom Dunkel ins Licht“.

Roland Kluttig, bei der Premiere aus der Loge beobachtet von Chefdirigentin Oksana Lyniv, die die Produktion wegen längerer Erkrankung nicht einstudieren konnte, ist ein so umsichtiger wie souveräner Klangverwalter eines farbenreichen Großapparats, unter anderem mit zwei Harfen. Der Generalmusikdirektor aus Coburg lässt Dukas’ impressionistische, von Wagner inspirierte, weit ins 20. Jahrhundert schauende Musik mit den behänden Grazer Philharmonikern nuanciert auffächern und prächtig aufrauschen und führt auch den Chor konzentriert.

Wilfried Zelinka hat die undankbarste Rolle, bleibt aber als fast stummer Barbe-Bleue dennoch eine ständige sadistische Bedrohung. Seine verführten, geknechteten, dressierten Frauen – #MeToos in einem Albtraumland – sind aus dem Ensemble mit Anna Brull, Yuan Zhang, Sonja Šarić, Tetiana Miyus (und zwei stummen Rollen) wunderbar besetzt. Iris Vermillion gibt die gouvernantenhafte Amme mit sattem Mezzo. Über alle strahlt freilich Manuela Uhl in der kräftezehrenden Titelpartie: Die deutsche Sopranistin kreuzt nimmermüde durch mäandernde Melodiebögen und Parlando-Passagen und leiht der Ariane auch schauspielerisch ein eindringliches Profil. Chapeau!