Das Neujahrskonzert ist vieles, bevor es noch ein Konzert sein darf: Tourismuswerbung, Quotenhit, Megaevent und – nicht zuletzt – Leistungsschau des Wiener Stadtgartenamts, seit San Remo nicht mehr liefert. Die wenigen aber, die Karten zum analogen, also lebensechten Ereignis ergattern konnten, werden Zeugen ernsthafter Auseinandersetzung mit der nur scheinbar leichten Muse des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Nicht einmal das überbordende Blütendekor, diesmal ziemlich lila, weil Lila nach dem Diktat der Modeindustrie die Farbe des neuen Jahres werden soll, stört beim Zuhören. Wären da nicht die Huster aus aller Herren Länder, nichts könnte die Freude an der Bordmusik auf Habsburgs Titanic stören.

Riccardo Muti, der das legendäre Konzert bereits zum fünften Mal dirigierte, ließ sich ein Programm voller Bezüge zu seiner Heimat zusammenstellen. In den Mittelpunkt rückt er das Beste, was die Wiener Tanzmanie hervorgebracht hat: die Strauß-Dynastie. Der Mode, weit in die umliegenden musikalischen Felder auszuschweifen, verweigert sich Muti. Stattdessen konzentriert er sich auf Johann Strauß in beiderlei Gestalt und fügt einiges von Josef hinzu, dem früh verstorbenen jüngeren Bruder des Donauwalzer-Komponisten.

Noch immer lassen sich Stücke finden, die ins Neujahrskonzert passen, ohne dort je gespielt worden zu sein. Ein besonderes Fundstück ist Alphons Czibulkas Huldigung an die Braut von Kronprinz Rudolf, Stephanie. Die ihr gewidmete zarte, an Offenbach erinnernde Gavotte des Militärkapellmeisters aus der heutigen Slowakei rettete zwar die Ehe der Unglücklichen nicht, mag aber als starkes Argument für den Erhalt der Militärmusik in Österreich dienen. Die im Vergleich zu den schwelgerischen Strauß-Kantilenen karstige „Boccaccio“-Ouvertüre des Dalmatiners Franz von Suppé schien in ihrer derben Schmissigkeit besonders zu gefallen.

Jeder Dirigent, dem das Neujahrskonzert anvertraut wird, bringt seine Sicht auf diese besondere Musik mit. Der multikulturelle Succus einer an Altersstarre zugrunde gehenden politischen Epoche enthält so viele kulturelle Einsprengsel, dass jeder Gast andere Schattierungen zutage treten lässt.

Fünftes Neujahrskonzert für Stardirigent Riccardo Muti


Muti kennt das Orchester, die Stadt und ihre Musik. Souverän und gelassen geht er an die heikle Wiener Mischung aus Lockerheit und Präzision heran. Streckenweise lässt er die Musiker alleine spielen, setzt nur ab und zu einen rhythmischen Impuls. Dann wieder zeichnet er Linien in ovalen Tanzbewegungen vor, wischt lässig mit der Hand über das imaginäre Bild und lässt im Detail viel Atemluft. Seine Liebe zu starken Temposchwankungen wäre zwar für Tänzer eine Tortur, die Konzertbesucher aber freuen die Dehnungen und Stauchungen durch den Maestro.

Ganz ohne imperiale Gesten führt Muti durch das Programm. Nur wenn es ans Herdendirigieren im Radetzkymarsch geht, greift er zur geballten Faust. Helfen tut’s auch nicht viel. Am Ende stützt sich der mittlerweile ergraute Neapolitaner lässig auf die Reling und schaut ins Publikum, als wollte er sagen: Eh schon wissen, was jetzt kommt. Den Neujahrsgruß des Orchesters dirigiert er, als wäre auch dieser noch ein großes Werk.
Bis zum sechsten Mal!