Warum versüßen Sie sich den Abgang aus Graz noch mit Marathonaufgaben, die am Sonntag mit Ihrem Abschiedskonzert enden?

DIRK KAFTAN: Ich brauche das – bis zum Schluss arbeiten und mit aller Kraft da sein. Ich will ja nach meiner wunderbaren Zeit in Graz mit Anstand und in aller Freundschaft gehen, und dazu gehört für mich, bis zur letzten Vorstellung das Beste zu geben.

Wehmut?

KAFTAN: Kommt sicher noch im stillen Kämmerchen. Aber ich stecke ja noch mittendrin in den letzten Aufgaben, also habe ich mir noch nicht so viele Gedanken darüber gemacht.

Was wird Ihnen fehlen?

KAFTAN: Die Menschen, die ich in Graz beruflich und privat kennen und schätzen lernen durfte. Die Lebensqualität hier. Und natürlich die besonderen künstlerischen Bedingungen an der Oper – die Atmosphäre, der freie Geist. Ich hatte das Glück, seit 2006 mit drei sehr unterschiedlichen, aber immer offenen Intendanten und Intendantinnen zu tun zu haben.

Haben Sie in Graz alles erreicht, was Sie wollten?

KAFTAN: Das schafft man wahrscheinlich nie. Der Weg ist das Ziel. Meine Absicht war, nicht nur bestmögliche künstlerische Qualität zu bieten, was schon schwer genug ist, sondern das Haus auf breiterer Basis in der Gesellschaft zu verankern – ob nun mit multikulturellen Projekten, unserer Mitwirkung beim Aufsteirern oder den vielen Vermittlungsprogrammen. So ein Prozess ist natürlich nie abgeschlossen, es gibt sicher noch Luft nach oben, und Intendantin Nora Schmid, meine Nachfolgerin Oksana Lyniv und das gesamte Team werden den Weg bestimmt weitergehen. Daneben gilt es natürlich immer, Flagge und Gesicht zu zeigen, damit die Förderungen auch gerechtfertigt sind.

Wann ist für Sie eine Produktion besonders geglückt?

KAFTAN: Wenn es für uns Künstler und das Publikum erfüllend ist, und vor allem, wenn es für alle Beteiligten relevant ist. Bohuslav Martinus „Griechische Passion“ war so ein Glücksfall, da hat sehr viel gestimmt. Oder im Konzert die 7. Symphonie von Schostakowitsch heuer im März im Musikverein. Unsere spätromantischen Werke, Korngolds „Die tote Stadt“ und Schrekers „Der ferne Klang“ waren wichtig. Und nach einer „West Side Story“ habe ich mir selbst einmal gedacht: Na, das war’s jetzt aber heute!

Kaftan und zufrieden?

KAFTAN: Nun, es gibt immer Ungenügsamkeit. Aber das ist ja mein Job: kritisch zu sein gegenüber dem, was man selbst, was man gemeinsam tut. Dazu zählt auch, nach Dingen zu greifen, die noch nicht erreicht sind. Scheitern inbegriffen.

Ist es der richtige Zeitpunkt für Sie, nach Bonn weiterzuziehen?

KAFTAN: Ein Ortswechsel ist immer reizvoll, weil man sich selbst neu erfinden, weiterentwickeln muss. Das schützt auch davor, in Routine zu rutschen. Und für die Grazer Oper ist es bestimmt sinnvoller, wenn einer eher zu früh als zu spät geht. In unserem Genre geht es ja nicht um höher, schneller, weiter, sondern um innere Entwicklungen in unterschiedlichsten Konstellationen. Aber wenn wir schon beim sportlichen Vergleich sind: Fußballtrainer muss man manchmal auch wechseln, um für frischen Wind zu sorgen. Ich finde, es braucht so etwas wie gesunde Unruhe, die alle neu herausfordert.



Welche „Unruhe“ wollen Sie denn in Bonn stiften?

KAFTAN: Ich möchte Ideen forcieren, die ich in Graz ja teilweise schon verwirklicht habe: Musikvermittlung, Vernetzung, Querdenken. Riten brechen. Ungewöhnliche Konzertformen und Aufführungsorte suchen. Einfach die bestmögliche Kommunikation mit Musik. Ich hoffe, meine Handschrift erkennt man schon ein bisschen, allein schon an den 60 Konzertprogrammen der kommenden Saison neben meiner Arbeit an der Oper. Wir alle müssen mehr denn je den Beweis antreten, dass diese Art von Kultur, die wir machen, wesentlich ist und beim Publikum ankommt. Das ist die Voraussetzung, dass es das alles, was wir tun, in 30 Jahren überhaupt noch gibt. Ich möchte mich jedenfalls mit allen Beteiligten auf ein Riesen-Experimentierfeld wagen und hoffe auf ein klares Ja zu unseren Visionen. Ideal wäre es, so eine Art Bürgerbewegung für Musik zu schaffen.

Sie standen als Chefdirigent in Graz naturgemäß sehr in der Öffentlichkeit. Verraten Sie uns ein Geheimnis, das man von Ihnen dennoch nicht weiß?

KAFTAN: Dann wär’s ja kein Geheimnis mehr (lacht).

Den Konter habe ich befürchtet. Gibt es doch etwas, das Sie, ohne rot zu werden, von sich verraten könnten?

KAFTAN:(denkt länger nach) Dass ich die Work-Life-Balance nicht wirklich beherrsche, aber Musik ist schließlich mein „Life“.

Und die „Balance“?

KAFTAN: Hole ich mir bei der Familie, bei Freunden, in der Natur, die für mich eine große Rolle spielt. In der Literatur und durch andere Inspirationen, die vielleicht nicht unbedingt mit meiner eigentlichen Arbeit zu tun haben – und doch, denn das sind ja immer kommunizierende Gefäße.

Fällt Ihrer Familie der Wechsel eigentlich schwer?

KAFTAN: Natürlich gibt es Unsicherheiten, Fragezeichen, braucht es Kraftaufwand. Aber das Timing ist mit unseren zwei Kindern ideal, weil ohnehin auch Schulwechsel anstehen. Wir werden in Bonn an der Peripherie wohnen, sehr schön, der Natur nicht zu fern – davon habe ich selbst wegen meiner vielen Engagements zwar am wenigsten, aber die Kinder sollen in einer idealen Umgebung aufwachsen.

Ihre Wünsche für heute, für morgen, übermorgen?

KAFTAN: Glück und Gesundheit. Das ist die Essenz. Und Glück – das ist ja ein ganz großer Kosmos ...