Die Arbeit der Britin Lynne Ramsay („You Were Never Really Here”) wird zwar erst  als letzter der 19 Filme im Rennen um die Goldene Palme gezeigt, doch ihre Regie-Kolleginnen Naomi Kawase aus Japan (bekam hier 1996 die Goldene Kamera für „Suzaku“ als besten Erstlingsfilm und 2007 den großen Jurypreis für „Der Wald der Trauer“) und Sofia Coppola aus den USA fanden mit ihren neuen Werken an der Croisette mehr als herzliche Resonanz.
Kawases behutsame, berührend schön gefilmte Liebesparabel „Hikari“ („Leuchten“) wir von manchen gar als Geniestreich gefeiert, da sie mit ihrem reflexiven Essay über die Wahrnehmung und das Sehen in den Kern ihres Metiers vordringt. Die Protagonisten: eine junge Frau, die Hörbeschreibungen von Filmen für sehbehinderte Menschen macht, und ein erblindender Fotograf.

Grandiose Darstellerinnen


Bei Coppola geht die Reise zurück in den Sezessionskrieg (1861–65): Die Promi-Tochter wagte sich mit „The Beguiled – Die Verführten“ an ein Remake von „Betrogen“ (1971) mit Clint Eastwood. Sie wollte aus weiblicher Sicht die Dynamik in einem Mädchenpensionat zu jener Zeit schildern, wo das geheime Beherbergen eines schwer verwundeten feindlichen Soldaten Begehren und Eifersucht hervorruft. Es entsteht eine tödliche Eigendynamik, bei der es keine Sieger gibt. Schwer zu sagen, ob der durchaus atmosphärisch gefilmte Kampf zwischen den zwei Geschlechtern Pedro Almodóvar als Jurypräsident gefällt. Schön jedenfalls, wie ein ganz junges Ensemble neben Colin Farrell, NicoleKidman und Kirsten Dunst mehr als bestehen kann. Wohl auch ein Indiz für eine sensible Regisseurin.
Wie Kawase ist auch Coppolas Karriere eng mit dem Festival von Cannes verbunden, startete die 46-Jährige hier doch 1999 mit ihrem Langfilmdebüt „Virgin Suicides“ und hatte 2006 die Pop-Operette „Marie Antoinette“ im Wettbewerb.
Der smarte Ire Farrell (40) erwies sich als Spaßvogel, scherzte sich durch die Pressetermine und gestand schmunzelnd: „Ich hatte keine Angst vor dem Dreh, weil ich dort der einzige Mann im Hauptcast war. Von zu Hause bin ich durch meine Mutter und meine zwei Schwestern starke Frauen gewohnt!“ Kidman (49) nutzte wiederum die Pressekonferenz, ihren Wunsch nach mehr Filmemacherinnen elegant, aber laut zu artikulieren, da der Anteil an Regisseurinnen in der Film- und TV-Branche weltweit noch immer fast verschwindend gering sei. Ihr statistisches Beispiel formulierte die schöne Australierin so: „Dreht man für eine Serie 4000 Folgen, werden davon nur 132 von Frauen inszeniert. Mit Sofia würde ich auch das Telefonbuch verfilmen, wenn sie mich im Ensemble haben will!“

Schnach-Faktor


Immerhin als Farbfleck im Hauptwettbewerb entpuppte sich „A gentle Creature“ des Ukrainers Sergei Loznitsa, auch wegen des Buh-Konzerts nach der Vorführung der kafkaesken Freak-Show über den Horrortripp einer jungen Frau, die ihren Mann im sibirischen Gefängnis besuchen will. Intensive Momente ihrer Reise münden nach mehr als zwei Stunden jedoch in einem billigen Schluss.
Ausschließen für einen Preis kann man hingegen das Biopic „Rodin“ des Franzosen Jacques Doillon (73)Weil er uns nichts Neues über den großen Bildhauer (1840–1917) erzählt und die leidenschaftliche Liebe bzw. Abhängigkeit zwischen Auguste Rodin und Camille Claudel wie eine fast unfreiwillig komische Fernsehschmonzette auf die Leinwand bringt. Die Szenen mit Zeitgenossen wie Monet, Cézanne und vor allem Rilke könnte man wohl in einer „Universum History“-Doku des ORF glaubwürdiger sehen.
Ein Bauchfleck auch für Hauptdarsteller Vincent Lindon, der bloß als Rodin verkleidet wirkt. Bei diesem Wettbewerbsbeitrag war der Schnarch-Faktor im Kinosaal besonders hoch; geweckt wurden die Ermüdeten bloß durch das Zurückklappen der Sitze, da viele das Kostümdrama vorzeitig verließen. Dafür konnten draußen auf dem roten Teppich die Teenager ihren „Twilight“-Star Robert Pattinson anhimmeln: Er versucht sich nun im Autorenkino der US-Brüder Safdie als psychopathischer Bankräuber („Good Time“ rittert ebenfalls um die Palme).
Vorläufiges Fazit: Cannes macht zum Jubiläum oft eher schläfrig, Skandale und Aufregungen wie früher sind nicht auszumachen. Noch nicht jedenfalls.