Frank Castorf muss wohl schon nach Wien an die Staatsoper gehen, um noch für Kontroversen zu sorgen: Hier entzünden sich an seinen Arbeiten eventuell noch die Gemüter, obwohl der ursprünglich für die Oper in Stuttgart kreierte "Faust" ziemlich nahe an der Erzählung des Originals gebaut ist und weit entfernt von jener "Stückezertrümmerung", mit der der Godfather des Regietheaters einst berühmt wurde. Castorf macht eine Art Miniparis zum Dreh- und Angelpunkt, ja zum Hauptdarsteller von Gounods "Faust"-Oper. In der detailreichen Drehbühne von Aleksandar Denić finden die Metro-Station "Stalingrad", ein Café, Mephistos Voodoo-Laden, Margarethes private Zimmer sowie eine gotische Kirche dicht gedrängt Platz.

Mit Goethes Stoff hat Castorf mindestens so wenig am Hut wie schon Charles Gounod. Was ihn interessiert, ist dieses urbane Setting Paris. Es ist kein zeitloses Paris, hier überlagern sich ganz spezifische Epochen: das glanzvolle, frühmoderne Paris des Zweiten Kaiserreichs, also die Entstehungszeit von Goundos Oper Mitte des 19. Jahrhunderts, sowie das Paris nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem der Algerienkrieg omnipräsent ist. Moderne, Hedonismus, Kolonialismus, Materialismus – Castorf remixt im verwinkelten Bühnenraum einige der großen Themen dieser 100 Jahre. Dort, wo der diabolische Wahnsinn des Kolonialismus seinen Anfang nahm (von seherischen Versen Rimbauds und Baudelaires begleitet), bis hin zu den Beschädigungen der Nachkriegszeit, als der übersteigerte französische Nationalismus Nordafrika verheerte. Man darf sich aus dem Gewimmel an Motiven das herausnehmen, was man möchte, die Liebesgeschichte zwischen Faust und Gretchen geht in der Flut an Referenzen natürlich unter, wie die "reine" Liebe oder eine einzelne, arme Seele wie die des Gretchens, von dieser diabolisch verseuchten Welt aus Kommerz, Konsum und Hedonismus ohnehin erdrückt werden muss.

Die Protagonisten? Ein sich nach Sinnesreiz und Jugend sehnender Faust, der ziemlich schnell wieder das Interesse an der verführten Margarethe verliert. Juan Diego Flórez singt schon den ersten Akt mit einer süßen Melancholie, die kaum ein anderer Tenor hier aufzubieten vermag. Sein Faust ist leicht, höhensicher, mit differenzierter Dynamik und vollendeter Süße. Die Spitzentöne überwältigen ebenso wie die Poesie der Linie. Natürlich bringt er seinen durch und durch lyrischen Tenor an die Grenzen, und spätestens im Finale fehlt ihm dann der dramatische Punch. Dort überschattet ihn Nicole Car, die ihre fulminante vokale Darstellung mit einem gleißend intensiven Finale krönt. Car ist kein lyrisches Blümchen, sondern ein Mädchen aus der Halbwelt, das desillusionierte Lied vom König aus Thule gelingt ihr besser als die zierlichen Girlanden der Juwelenarie.

Der zwielichtige Maître de Plaisir Mephisto ist beim jugendlichen Bass von Adam Palka, der die Rolle wundervoll verschlagen-zynisch anlegt, bestens aufgehoben. Dass andere die Rolle sicher noch dämonischer oder detaillierter angelegt haben (beides übrigens meist nicht): geschenkt. Auch Palka ist eine Weltklassebesetzung. Dass mit dem markigen, wunderbar resonanten Bariton Étienne Dupuis und der markanten Charakterstimme Kate Lindsey auch Valentin und Sièbel hochklassig besetzt sind, komplettierte den musiktheatralischen Sterntag.