Ein strenger, fast kerkerartiger Kubus aus hellem Birkenholz. Eine lange weiße Tafel, die auch als Bett und Laufsteg dient. Elegante Kleidung in Grau-, Schwarz- und Weißtönen, wenn auch historisch: Schon Bühnenbildner Gideon Davey und Kostümbildnerin Dieuweke van Reij halten, was im Vorfeld versprochen wurde: Dieser „Eugen Onegin“ an der Grazer Oper ist eine sehr klare, reduzierte Produktion, und die Geschichte um Liebe, Ehre und Verrat könnte überall, jederzeit stattfinden, nicht nur im 19. Jahrhundert, auf einem russischen Landgut.

Die Heutigkeit des Dramas zu unterstreichen, war Jetske Mijnssen für ihre erste Arbeit am Haus wesentlich – zu schildern, wie sich in der Liebe das Glück des Moments und die Last der Gewohnheit im Wege stehen. Die niederländische Regisseurin gelingt das ohne Aktualisierungsdruck, und sie setzt stark auch auf schauspielerische Dramatik und die Intimität von Zwiegesprächen. Zudem erzielt sie in den sieben Bildern mit geringen Mitteln große Effekte. So zum Beispiel in der fast surrealen Szene mit Fürst Gremlin, der in Rollstuhl und mit Augenbinde von zigfachen Klonen umringt ist – das Leben versehrt alle. Oder wenn sich zwischen zwei Freunden aus unbegründeter Eifersucht im wahrsten Sinn des Wortes ein Graben auftut.

Basierend auf dem gleichnamigen berühmten Versroman von Alexander Puschkin, erzählt Peter Iljitsch Tschaikowski in seinen „Lyrischen Szenen“ aus dem Jahr 1879 von der schwärmerischen Gutsbesitzertochter Tatjana, die sich auf den ersten Blick in den Nachbarn verliebt und ihm ihre Gefühle in einem Brief gesteht. Doch der junge Adelige ist ein arroganter Dandy, der aus Langeweile mit den Damen spielt und romantische Ehevorstellungen belächelt. Wegen einer eskalierenden Tändelei und darauf folgender Eifersucht fordert er wenig später seinen wütenden Freund Lenski zum Duell und tötet dabei den Dichter und Bräutigam von Olga, Tatjanas Schwester. 16 Jahre später treffen Onegin und Tatjana einander wieder. Der einstige Lebemann glaubt inzwischen, seine tieferen Gefühle entdeckt zu haben. Aber Tatjana will nicht zwei Mal in dieselbe Falle tappen ...

Für die Premierenvorstellung von Tschaikowskis Dreiakter, zuletzt 2001 in Graz zu sehen, war ja der Steirer Markus Butter als Onegin vorgesehen, musste aber am Mittwoch wegen gesundheitlicher Probleme passen. An seiner Stelle kam nun früher als geplant Dariusz Perczak zum Zug. Dem 28-Jährigen, seit dieser Saison Ensemblemitglied der Oper Graz, nimmt man zunächst den Leichtenöter nicht ab; sehr wohl gestaltet er aber glaubhaft den Wandel des dekadenten Onegin zu einem Mann, der seine frühere Oberflächlichkeit bereut; in den Schlussszenen der Verzweiflung blüht der Bariton des Polen herrlich auf.

Pavel Petrov (Lenski), Dariusz Perczak (Eugen Onegin), Yuan Zhang (Olga), Chor der Oper Graz
Pavel Petrov (Lenski), Dariusz Perczak (Eugen Onegin), Yuan Zhang (Olga), Chor der Oper Graz © Werner Kmetitsch


Die Tatjana war respektive ist auch für die ganz Großen wie Galina Wischnewskaja, Mirella Freni oder Anna Netrebko stets eine Herausforderung. Die Russin Oksana Sekerina gibt die Veträumte mit großer Leidenschaft und mit reifem Sopran. Speziell zu Herzen geht ihre Melancholie in der Briefszene (ohne Brief, quasi in einem inneren Monolog), als sie sich schon nach Ehe und Kind sehnt, noch ehe sie weiß, ob Onegin „ein Schutzengel oder heimlicher Verführer“ ist.
Der weißrussische Tenor Pavel Petrov singt den brüskierten Lenski mit nicht sehr großem, aber schön timbriertem Tenor und berührte speziell in der Duell-Szene.  Die chinesische Mezzosopranistin Yuan Zhang gibt keck den verspielten Flattervogel Olga.

Auch der Rest des Ensembles überzeugt: Alexey Birkus als Fürst Gremlin, Christina Baader als Tatjanas Mutter Larina, Elisabeth Hornung als Amme Filipjewna und Manuel von Senden, der als Triquet im burlesken Clownkostüm Tatjana zur zersägten Jungfrau macht. Der von Bernhard Schneider einstudierte Chor ist in klugen Choreographien und aus dem Off sehr präsent.

„Eugen Onegin“ sei „die Traumoper seit meiner Kindheit“, hatte Oksana Lyniv im Interview mit uns geschwärmt, „und die Musik ist so ergreifend!“. Bei ihrer ersten Opernpremiere als neue Chefdirigentin unterstrich die 39-jährige Ukrainerin das mit fein ziselierter Arbeit an der vielgestaltigen, vielfarbigen Partitur und demonstrierte, wie Tschaikowski mit einmal aufwühlenden, einmal lyrischen, einmal resignierenden Klänge im behenden Orchester das Hoffen, Lieben, Taumeln der vier Hauptprotagonisten auf der Bühne spiegelt.

In Summe glückt der Grazer Oper mit diesem „Onegin“ ein tiefgängiger, poetischer Abend. Ein Seelendrama über die Vorahnung von Tod und Zerstörung nicht bloß des oder der Einzelnen, nicht bloß von Freundschaft und Liebe, sondern einer ganzen Gesellschaft, wie sie im vorrevolutionären Russland zu spüren war und bis heute überall dort zu spüren ist, wo Werte, Gewissen und Moral bröckeln.

Dariusz Perczak (Eugen Onegin) und Pavel Petrov (Lenski)
Dariusz Perczak (Eugen Onegin) und Pavel Petrov (Lenski) © Werner Kmetitsch
Peter Iljitsch Tschaikowski (1840–1893) gilt als bedeutendster russischer Komponist des 19. Jahrhunderts. Im Juli 1877 heiratete er überstürzt, offenbar um Gerüchte über seine Homosexualität zu tilgen. Kaum einen Monat später floh er vor seiner Frau Antonina nach Kamenka, wo er mit seiner Arbeit an „Eugen Onegin“ begann. Das Libretto zu seiner fünften von neun Opern schrieb er mit Konstantin Schilowski nach dem gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin.
Peter Iljitsch Tschaikowski (1840–1893) gilt als bedeutendster russischer Komponist des 19. Jahrhunderts. Im Juli 1877 heiratete er überstürzt, offenbar um Gerüchte über seine Homosexualität zu tilgen. Kaum einen Monat später floh er vor seiner Frau Antonina nach Kamenka, wo er mit seiner Arbeit an „Eugen Onegin“ begann. Das Libretto zu seiner fünften von neun Opern schrieb er mit Konstantin Schilowski nach dem gleichnamigen Versroman von Alexander Puschkin. © KK
Alexander Puschkin (1799–1837) ist der wichtigste Schriftsteller Russlands. „Eugen Onegin“ schrieb er zwischen 1823 und 1830. Der realistisch-poetische Roman in Versen rund um einen vergnügungssüchtigen Adelssohn gilt als „Enzyklopädie des russischen Lebens“, als das moderne russische Nationalepos.
Alexander Puschkin (1799–1837) ist der wichtigste Schriftsteller Russlands. „Eugen Onegin“ schrieb er zwischen 1823 und 1830. Der realistisch-poetische Roman in Versen rund um einen vergnügungssüchtigen Adelssohn gilt als „Enzyklopädie des russischen Lebens“, als das moderne russische Nationalepos. © KK

"Ein bisschen lernten wir ja alle
Wohl irgendwas und ungefähr,
So ist, gottlob in unserem Falle
Mit Bildung glänzen gar nicht schwer.
Onegin war, wie viele dachten
(Die strenge Riechermienen machten),
Ein kluges Haus, dabei Pedant,
Und doch so glücklich und gewandt ..."
(Auszug aus Puschkins Versroman)