Die Salzburger Festspiele neigen sich ihrem Ende zu. Den Schlusspunkt setzt am 30. August eine konzertante Aufführung von Gaetano Donizettis "Lucrezia Borgia". Zwei Tage vorher zieht das Direktorium in einer Pressekonferenz Bilanz. Hier eine Rückschau auf Höhepunkte und Aufreger der ersten Saison von Intendant Markus Hinterhäuser.

DER ALLERGRÖSSTE ERFOLG: Das Beste kommt zum Schluss. Eine alte Weisheit, die im Festspieltreiben nicht immer zutrifft. Simon Stones "Lear"-Inszenierung als Abschluss des Premierenreigens hat heuer aber gute Chancen auf den Ehrentitel. "Stone krönt den Salzburger Premierenreigen" schrieb die "Neue Zürcher Zeitung", "eine beeindruckende, überwältigend imposante Premiere" die "Salzburger Nachrichten", "Die letzte Premiere wurde zum allergrößten Erfolg" der "Kurier", die "Presse" sprach von einem "Triumph zeitgenössischen, schonungslos expressiven Musiktheaters" und ORF-Experte Peter Schneeberger konstatierte: "Für mich der künstlerische Höhepunkt der Festspiele." So wenig Polarisierung, so wenig Widerspruch gab es heuer sonst nicht.

DIE GRÖSSTE ENTTÄUSCHUNG: Für "Kasimir und Karoline" musste man heuer nicht extra zu den Festspielen anreisen. Das vielerorts zu Recht erfolgreiche Partizipationstheater, bei dem Laien und Profis gemeinsam auf der Bühne stehen, nahm sich im Festspielrahmen wie ein Fremdkörper aus. Während die einen die unnachahmliche Sprache Ödön von Horvaths schmerzlich vermissten, trauerten andere der "Young Directors Project"-Schiene nach, die den Experimenten einen speziellen Rahmen gegeben hatte.

DIE TOLLSTE STIMME: Societyberichte hin, erblondete Haare her - Anna Netrebko ist und bleibt das stimmliche Ausnahmetalent der aktuellen Opernszene. Wenn die 45-jährige Austro-Russin die Bühne betritt, ist Schluss mit dem Hintergrundrauschen des Klassikbetriebes - dann gilt's der Kunst. Dass die Primadonna dabei auch ein Gespür für die Veränderungen ihrer Stimme hat, zeigt sich an der richtigen Rollenwahl - die sie heuer zur umjubelten Aida führte.

DIE NEUEN SALZBURG-LIEBLINGE: Ein wenig war das enthusiastische Herz der Salzburger Festspielegemeinde seit Netrebko/Villazon auf der Suche nach neuen Liebesobjekten. Mit dem Pultrevoluzzer Teodor Currentzis und der französischen Mezzosopranistin Marianne Crebassa, die mit ihrer Deutung von Mozarts "La Clemenza di Tito" den fulminanten Auftakt der Opernpremieren lieferten, scheinen endlich neue Lieblinge gefunden. Da würde es fast wundern, wenn sich die Begeisterung nicht in neuerlichen Rendezvous in den kommenden Festspielausgaben manifestiert.

DIE TEUERSTEN KARTEN: Am meisten ließen sich spät entschlossene, doch finanzkräftige Festspielbesucher ihre Last-Minute-Tickets für die "Netrebko-Show" kosten: Karten für "Aida" sollen im Internethandel oder am Schwarzmarkt laut Presseberichten bis zu 5.000 Euro gekostet haben.

DER UNGNÄDIGSTE WETTERGOTT: Gott, der Herr, war offenbar nicht recht glücklich darüber, dass in Michael Sturmingers Bearbeitung des "Jedermann" auch der Salzburger Dom verkauft wurde und für weltliche Lustbarkeiten umgebaut werden soll. Vier Vorstellungen ließ er mit Donner, Blitz und Regen seinem Ärger freien Lauf. Erst ab der fünften "Jedermann"-Vorstellung konnte man am Domplatz spielen.

DIE GRÖSSTE ÜBERRASCHUNG: Während das Opernprogramm gleich drei von fünf Neuproduktionen Komponisten des 20. Jahrhunderts widmete (Schostakowitsch, Reimann und Berg), sah das Schauspielprogramm vergleichsweise alt aus. Kein einziger lebender Theaterautor wurde gespielt.

DIE GRÖSSTE FEHLEINSCHÄTZUNG: Mit Spannung war die erste Opernregie von Filmkünstlerin Shirin Neshat ("Women without Men") in Salzburg erwartet worden. Ihre "Aida" zeigte jedoch, dass eine große Künstlerin nicht zwingend eine große Bühnenregisseurin abgibt - zumindest nicht, wenn keine Vorerfahrung mit Personenführung existiert und mit Riccardo Muti ein dominantes Alphamännchen seine Vorstellungen über den Graben hinaus festmauert.

DIE UNMITTELBARSTEN ZEITBEZÜGE: Für gewöhnlich tickt der Puls der Zeit im Sprechtheater lauter als in der Operninszenierung. Dass es auch anders geht, stellten die ersten Hinterhäuser-Festspiele heuer unter Beweis. Shirin Neshat verknüpfte ihre "Aida" streckenweise mit der aktuellen Flüchtlingssituation, Simon Stone ließ seinen "Lear" inmitten einer Statistenschar spielen, die vom Salzburger Festspielpublikum erst zu unterscheiden war, als sie ins Blut geworfen wurde, und Andreas Kriegenburg schuf mit seiner "Lady Macbeth von Mzensk" ein aktuelles Gesamtwerk der menschlichen Verrohung.

DER ÄLTESTE DEBÜTANT: Das hätte sich Mariss Jansons wohl auch nicht träumen lassen, dass er im reifen Alter von 74 Jahren noch mal als Frischling bei den Salzburger Festspielen gehandelt würde. Nach 29 Konzerteinsätzen seit 1990 mutierte der lettische Dirigent aber noch einmal zum Eleven - konnte er mit Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" doch seine erste Oper an der Salzach leiten.

DIE MEISTEN BLUMEN: Auch wenn die Damen der Premieren sich durchaus über das eine oder andere Sträußchen nach getaner Arbeit freuen konnten, gab es die meisten Blumen heuer nicht für Anna Netrebko und Co, sondern für den "Lear" - entfaltete sich doch bei Simon Stones Inszenierung ein wahrer Blumenteppich in der Felsenreitschule, der jedem Neujahrskonzert zur Ehre gereicht hätte.

DIE LÄNGSTE VORSTELLUNG: Sieben Stunden ohne Pause verlangten vom Publikum und den einander abwechselnden Vortragenden im Lesemarathon zu "Der Mann ohne Eigenschaften" im Landestheater einiges an Durchhaltevermögen

DAS HÄUFIGSTE REQUISIT: Spitals- oder Krankenbetten begegnete man heuer in verschiedenen Variationen frappierender Weise gleich in vier Produktionen, in "Jedermann", "Titus", "Rose Bernd" und "Lear". "Dabei stand nicht einmal Molières 'Eingebildeter Kranker' auf dem Plan", befand die "Kronen Zeitung".

DIE DÜSTERSTEN BILDER: An düsteren Visionen herrschte heuer auf Salzburgs Festspielbühnen kein Mangel - doch der Fürst der Finsternis war der Südafrikaner William Kentridge. Seine "Wozzeck"-Inszenierung geriet zum Gesamtkunstwerk, bei dem Kohlezeichnungen der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs eine eindringliche Zukunftswarnung abgaben.

DAS TOLLSTE BÜHNENBILD: Deutlich bessere Kritiken als die drei Lulu-Darstellerinnen erhielten die 28 Kugel-Ballons, die Florian Lösche an die Bühnendecke der Halleiner Perner-Insel gehängt hatte. Als immer wieder auf- und abfahrende Rätsel- und Kunstobjekte, Licht-Regulatoren und Projektionsflächen boten sie der "Monstretragödie" von Frank Wedekind einen Raum, der sich auch im Kunstmuseum gut gemacht hätte.

DER GRÖSSTE MANGEL: Im Theater- oder Musiktheaterbereich gab es heuer gar keine Uraufführung. Das sollte sich künftig wieder ändern.