"Die bauliche Maßnahme", das Wort einer Ex-Innenministerin für Grenzzaun, hat Nikolaus Geyrhalter zu einer besonderen dokumentarischen Maßnahme inspiriert. Der Film dreht sich um die Brennergrenze im Jahr 2017, als die Flüchtlingswelle abebbte und ein Minister dennoch Panzer auffahren lassen wollte. Geyrhalter lässt die Menschen im Tal und am Berg sprechen - was die "Maßnahmen" mit ihnen machen.

Gefilmt hat Geyrhalter in der Doku - Uraufführung am Mittwoch beim Grazer Filmfestival Diagonale - zu beiden Seiten der Grenze am Brenner sowie in den Tälern und auf den Bergen westlich und östlich davon. Er lässt eine Südtiroler Spenglerfamilie zu Wort kommen, die Menschsein in ein paar Minuten präziser beschreibt als Politiker in einem ganzen TV-Wahlkampfjahr. Eine freundliche Mautnerin, die bei ihrer Arbeit in der Mautstation gefilmt wird und neben "Neun Euro, bitte. Danke. Wiedersehen" über ihre mitunter wenig reflektierten Gedanken zu Flüchtlingen spricht. Jäger durchstreifen das gebirgige Revier an der Grenze, definieren ihren Begriff von Heimat und fühlen mit den fliehenden Menschen: "Bei dem Wetter, da über die Berg'...". Er filmte Polizeioffiziere, denen die Präsentation von Zaunbaumaßnahmen an der sensiblen Grenze zwischen Österreich und Italien sichtlich unangenehm ist, und Bundesheer-Soldaten, die erst grimmig und entschlossen hoch über dem Talgrund das Gelände beobachten. Und die lächeln müssen, als sich ein Kätzchen vom nahen Bauernhof vertrauensvoll um ihre Beine, jene der Ortsfremden, schlängelt.

Geyrhalter hat bei etwa der Hälfte der Doku einen herrlichen Turn eingebaut. Idyllisches Bild: eine Tiroler Alm, ein Bergbauernhof, daneben eine Bohrstelle - für den Brennerbasistunnel, wie sich etwas später herausstellt. Arbeiter mit Schutzhelmen laden Rohre für das Bohrloch ab, die wenig später zusammengeschweißt werden. Sie sind nur von hinten zu sehen, dies alles in den Geyrhalter-typischen langsamen, sich Zeit lassenden Kameraeinstellungen. Und plötzlich, bei einem Close-up wird klar: Hier arbeiten senegalesische Spezialisten. Abdoul und seine Kollegen werden von der Bäuerin versorgt, es gibt Kürbiscremesuppe - mit Couscous. Unterdessen setzen Menschen von Abdouls Kontinent ein paar Kilometer entfernt alle Hoffnungen auf ein gutes Versteck in einem Güterzug oder einen gefinkelten Schlepper.

Die ganze emotionale Bandbreite

Die in dem Bahnhof-Cafe am Brenner laufenden TV-Nachrichten werden von Politikern dominiert, die vom Minister zum Kanzler oder vom Minister zum Nationalratspräsidenten oder vom Minister zum Landesrat wechseln. Ihre Reden und die ihrer Nachfolger bleiben jedoch die gleichen austauschbaren Phrasen, die am Ort des Geschehens umso hohler klingen. Ein Bergbauer, der Gänse und Kühe züchtet, sagt beim Anblick eines Polizisten in den TV-Nachrichten, der sich gegen einen Zaun am Brenner ausspricht: "Ein Beamter muss so etwas den Politikern sagen, tragisch."

Die Reflexionen der Menschen an der Grenze sind mehr als sehens- und hörenswert. Sie umfassen die ganze Bandbreite von skeptisch bis mitfühlend, von Politikbewertung bis Heimatgefühl. Und dass die "Maßnahmen" zur Abhaltung der Flüchtenden auch gestandene Polizisten nachdenklich machen, ist eine der Leistungen von Geyrhalters mit zwei Stunden schon überlanger Doku. Der Offizier führt erst mit sehr amtsdeutschen Worten durch die Container des "Grenzmanagements", durch das auch Flüchtlingsfamilien mit Kindern kommen werden. Auf die Frage, ob denn das alles die Kollegen auch psychisch mitnehme, sagt er nachdenklich im Tiroler Dialekt: "Ja, dos nimmt man mit nach Haus. I hab' selber Kinder, selbes Alter. Ich sag' dann meinen, de hab'n keine Perschpektive. Es habt's alle Chancen."

"Und hoff ma, dasch sie do bleibt"

Der Zaun am Brenner wurde nicht verwirklicht, im Gegensatz zu Nickelsdorf im Burgenland und Spielfeld in der Steiermark. Die Schlussszene zeigt es: Drei Polizisten öffnen einen weißen Container. "Das ist die bauliche Maßnahme?" fragt Geyrhalter aus dem Off angesichts von Zaunstehern und Maschendraht. Ein Polizist bejaht: "Und hoff ma, dasch sie do bleibt."

Am 27. Oktober 2015 war das von der damaligen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) bei einer improvisierten Pressekonferenz am südsteirischen Grenzübergang Spielfeld gebrauchten Synonym für Grenzzaun - "bauliche Maßnahmen" - ein geflügeltes Wort geworden. Es avancierte zum Unwort des Jahres 2015 in Österreich. Wort des Jahres wurde übrigens "Willkommenkultur".