Einer geht, ist gegangen. Für immer. Nicht irgendeiner. Eine rund 45 Jahre bestehende Freundschaft, in der nicht nur das Sehen, das Wiedersehen, Bedeutung hatte, sondern das Verstehen, die innere Verbundenheit, all diese Zeiten lassen sich nicht so einfach hinwegwischen, wie es mitunter der Tod tut. Jäh, unerwartet, ungerecht. Sinnlos, belanglos auch, wäre der Versuch, die Lücke auch nur ansatzweise zu beschreiben, die durch den Tod entstanden ist. Leere, die bleibt, kennt kein Maß, keine messbare Einheit. Dies teilt sie mit der Trauer.

Unser gemeinsamer Lieblingsautor

Es ist schon etliche Jahre her, da inszenierten wir uns, halb im Spiel, halb fast erdrückt von der Wahrhaftigkeit der Aussage, stunden- und nächtelang, in der damals gemeinsamen Bleibe ein eigenes, improvisiertes Stück. Ausgehend von einem meiner Lieblingszitate. Es stammt von Samuel Beckett, einem unserer gemeinsamen Lieblingsautoren. „Stell dir vor, als ob dies, all dies, eines Tages, eines schönen Tages, als ob all dies gar nicht gewesen wäre.“ Der Satz und mit ihm die letzte aller Vorstellungen, er hat seine unwiderrufliche Gültigkeit bekommen. Und doch bleibt so vieles unvorstellbar.


Nicht unvorstellbar, sondern häufig höchst amüsant und unterhaltungsreich war es damals, mit welcher Arroganz, gepaart mit Ahnungslosigkeit, du ganz und gar einzigartiger Mensch durch die oft bewusst ungestüme Ausdrucksweise sträflich unterschätzt worden bist. Für immer ein Rätsel bleiben wird es nicht nur mir, in welchem Tempo, in welcher Fülle der einstige Lebenskünstler, der es zu einer unübersehbaren Präsenz als Gesamtkunstwerker brachte, Wissen in sich aufnehmen konnte. Um daraus konsequent deine eigenen Lebensweisen und Weisheiten zu formen. Oft genug schien darin die neckische Liebe zu stecken, dich recht naiv zu stellen, ehe treffsicher und kenntnisreich ein grandioser Gegenschlag folgte. Schauspielerblut? Vielleicht auch dies.

Unvergessliche Momente


Etliche dieser Auftritte, durchaus bühnenreife, bleiben unvergesslich. Etwa das Streitgespräch mit einem einst hohen ORF-Mann, der, ausgestattet mit reichlich viel Ignoranz, beschränkter Sachkenntnis, postulierte, ein Gedicht ohne Reim sei gar kein Gedicht. Im Minutentempo fegtest du, in der Rolle des vermeintlichen Rüpels aus der Oststeiermark, deinem verdatterten Gegenüber eine schier endlose Reihe von Autorinnen- und Autorennamen um die immer rötlicher werdenden Ohren, einem sprechenden Lexikon der Gegenwartslyrik gleich. Als auch das nichts half, wäre es beinahe zu Handgreiflichkeiten gekommen.

Unwiderlegbar radikal


Gleichgültigkeit oder Scheuklapprigkeit in der Kunst waren dir ein Gräuel, stets waren deine Standpunkte radikal, unverrückbar. Führten deine Argumente tatsächlich einmal völlig in die Sackgasse, folgte ein unwiderlegbares Schlusswort: „Wie’s ist, so ist es.“
Ja, wie es ist, so ist es. Du hast gelebt für und in der Kunst. Anfangs als Protestsänger namens Everest, bald danach als Lyriker, der den Zyklus „Blumen, die nur im Gefängnis blühen“ schuf. Aber schon damals galt, was gültig bleibt. Die rare Gabe, die Begriffe Künstler und Mensch auf den größten gemeinsamen Nenner zu bringen.


Rund einhundert inszenierte Stücke sprechen für sich, vorwiegend Uraufführungen. In Schwerin, in Hamburg, in Laibach, als Stammgast bei den Mülheimer Theatertagen, im Grazer Forum Stadtpark und später im „dramagraz“. Dem Autoren- und Autorinnentheater galt all deine Zuneigung. Und damit auch die Möglichkeit, aus Textkörpern Menschen zu formen. Dies führte zu Freundschaften mit Elfriede Jelinek, Y(¯o)ko Tawada, Einar Schleef, Wolfgang Bauer, um nur einige Namen zu nennen.

2017: Genehmigung, müde zu sein

Wer im Glück leidet, kann im Unglück lächeln, diesen Grundsatz hast du in dir getragen. In einem Körper, dem mehr als 60 Jahre lang sehr viel zugemutet wurde. Dennoch: Die Energie, die Kreativität, der Tatendrang, all das schien schier unerschöpflich und ungeduldig darauf zu warten, geweckt zu werden. Erst unlängst fügtest du deiner Biografie folgenden Eintrag hinzu: „2017 – Selbst verliehene Genehmigung, müde zu sein.“ Im Wissen, dass weitere große Aufgaben, etwa eine Uraufführung im Opern-Atelier der Bregenzer Festspiele, auf dich warten. Der Vorhang muss unten bleiben.

Und gestern, bei der KUG-Premiere von „Hänsel und Gretel“? Stille, Betroffenheit, tiefe Trauer, eine Schweigeminute.
Aber einer wie du, der ging, der viel zu früh gehen musste, der ist doch weiterhin da, auf andere, dauerhafte Weise. Weil da so viel gewesen ist.

Lebenshymne

Kleiner Nachtrag: Kürzlich, am 5. Jänner, feierte Ernst M. Binder seinen 64. Geburtstag. Ich schickte ihm eine Nachricht, samt dem Titel „Just a Perfect Day“. Der Lou-Reed-Titel war eine Anspielung auf eine Vielzahl gemeinsamer Erlebnisse und Erinnerungen. Kurz danach folgte, als ebenfalls anspielungsreiche Rückmeldung, der Titel der Lebenshymne von Nick Cave: „Into My Arms“.
Mache ich, lieber Ernst, im Gedenken, in Gedanken, und viele andere machen es sicher auch. Denn all das ist nicht nur gewesen. Es bleibt. Vorstellbar und unvorstellbar zugleich.