Die Koordinaten seiner Kindheit lagen schlecht: Ilija Trojanow war sechs Jahre alt, als seine Eltern mit ihm aus dem kommunistischen Bulgarien flüchteten. Jahrzehnte später erinnerte er sich im Interview mit der Kleinen Zeitung: „Für mich war es eine Abenteuerreise. Sowohl die Flucht als auch die Flüchtlingslager waren in meiner Erinnerung aufregend.“ Es schockiere die Menschen manchmal, wenn er das sage, aber so habe er es damals tatsächlich empfunden. „Aber die Wahrheit des Tages ist nicht die Wahrheit der Nacht“, schreibt Ilija Trojanow in seinem neuen Buch „Nach der Flucht“. Wie auch die Erinnerungen dank der Zeit weicher und geschwungener werden.

Auf schmalen 125 Seiten schafft es der 51-Jährige, die Traurigkeit des Tages, aber auch die Geborgenheit einer mondhellen Nacht so schlicht wie klar darzustellen. Mit Aphorismen, Beobachtungen, Kurz-Essays und Dramoletten. Es verwundere ihn immer wieder, dass alle Welt fragt: „Woher kommst du?“ Keiner fragt: „Wohin gehst du?“ Mit Groucho Marx, Martin Luther oder José Lezama Limas „krokodilschläfrigen Breitengraden“ als Stichwortgebern schafft es Trojanow, mit scheinbar geringstem Aufwand größtmögliche Wirkung zu erzielen. Die Sätze gehen unter die Haut und brennen sich ein wie ein Rosentattoo: „Vor der Flucht wusste er, wieso er unglücklich war.“

Ilja Trojanow: Nach der Flucht. Verlag S. Fischer, 128 Seiten, 15,50 Euro.
Ilja Trojanow: Nach der Flucht. Verlag S. Fischer, 128 Seiten, 15,50 Euro. © S. Fischer

Auf Wikipedia wird Flucht als „Reaktion auf Gefahren, Bedrohungen oder als unzumutbar empfundene Situation“ beschrieben. Ist es nur ein Zufall, dass sich im Wort Flucht auch der Fluch verbirgt? Vielleicht hat Ilija Trojanow denselben Grund, über das Sein auf und nach der Flucht zu schreiben, wie Abenteurer, die es zum Gipfel zieht. Everest-Bezwinger Sir Edmund Hillary antwortete auf die Frage, warum er einen Berg besteige: „Weil er da ist.“ „Ich denke, dass ich eine gewisse Verantwortung habe, über bestimmte Themen zu schreiben. Und wenn ich so genau und so gut darüber schreibe, dass ich eine kleine Wirkung erziele, ist es besser, als betroffen zu sein. Denn Betroffenheit“, sagte uns Trojanow im Interview, „ist kein Rettungsring.“

Die Welt, so schrieb er einst im Essay „Der überflüssige Mensch“, erinnere ihn zunehmend an die Züge in den rückständigsten Regionen Indiens, wo es sich einige wenige in der 1. Klasse bequem machen, die Halb- und Viertelprivilegierten in der 2. und 3. Klasse untergebracht sind, doch die meisten auf dem Dach hocken – in panischer Angst hinunterzufallen. Ilija Trojanow kennt die Welt: Er lebte einige Jahre in Kenia, mehrere in Indien und überall dort, wo ihn seine Sehnsucht hinzieht. Und ist „verliebt in das Grün des fernsten Grases“, wie es Lal Ded formuliert, eine Kaschmiri-Dichterin aus dem 14. Jahrhundert.

Mit der Zeit ist der begnadete Schriftsteller ein Nomade aus freien Stücken geworden, ein „Weltensammler“ wie die Hauptfigur in seinem gleichnamigen und mehrfach ausgezeichneten Weltbestseller über den Beamten der East India Company, Richard Francis Burton. Doch Trojanow kennt eben auch das unfreiwillig Nomadische. Er kennt die Schwierigkeiten des Heimischwerdens, das Ankommen, das immer auch mit dem Fortwollen verbunden ist, und die sogenannte Heimkehr, die doch so häufig eine „Fremdkehr“ ist: „Die Flucht wirkt fort. Ein Leben lang.“