Sind wir Menschen noch zu retten? Dieser Frage widmen Sie sich im Rahmen Ihrer Vorlesung bei der Akademie Graz. Ist es so dramatisch?
KURT KOTRSCHAL: Wir haben keine Chance, das Multitrauma der Biosphäre auch nur irgendwie kurieren zu können, wenn wir keine realistische Sicht auf uns selbst haben. Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.

Was braucht es für eine Rettung?
Einsicht in die sachlichen Notwendigkeiten, aber auch in die Hintergründe des eigenen Handelns. Was hilft, ist eine gute Bildung: Dahinter zu steigen, warum wir tun, was wir tun, warum wir wollen, was wir wollen. Wenn man beginnt das zu verstehen, gewinnt man Entscheidungsfreiheit. Um es ganz platt zu sagen: Je mehr ich weiß, desto weniger bin ich von meinen Instinkten getrieben. Man müsste nur auf Wissen und Einsicht setzen und die Menschen nicht nur menschenwürdig, sondern auch menschengerecht behandeln – dann könnte es funktionieren. Moralische Appelle an das Überleben der Menschen werden nicht viel nützen. Nach dem Motto „Das Hemd ist mir näher als der Rock“ lassen viele Menschen, wenn es kritisch wird, die Menschheit einen guten Mann sein.

Wird die Menschheit aussterben?
So schnell nicht, aber es kann sein, dass es einem großen Teil der Menschheit in den nächsten Jahrzehnten doch um einiges schlechter gehen wird als heute. Es war evolutionär nicht vorgesehen, dass es plötzlich 7,6 Milliarden von uns gibt.

Werden uns moderne Technologien wie Robotik oder künstliche Intelligenz den Rang als „Krone der Schöpfung“ streitig machen?
Erstens sind wir nicht die Krone der Schöpfung. Zudem spricht alles dagegen, dass wir geplant gewesen wären. Ohne den Meteoriteneinschlag vor 66 Millionen Jahren gäbe es beispielsweise gar keine Menschen. Der Einschlag war eine von vielen notwendigen Bedingungen, dass wir entstanden sind. Und zweitens hat künstliche Intelligenz nichts mit Intelligenz zu tun, es sind Algorithmen. Die typisch menschliche Art, über Dinge nachzudenken, flexibel zu sein, Standpunkte zu entwickeln, emotionale Einstellungen zu haben – das kann kein Algorithmus. Ich fürchte mich eher vor Leuten, die sehr gut darin sind, künstliche Intelligenz in ihrem Sinne einzusetzen. Nehmen wir China als Beispiel, wo durch die Bündelung von digitale Technologien und künstlicher Intelligenz die Bevölkerung überwacht wird beziehungsweise der Staat sein Milliardenvolk voll im Griff hat.

Ein Phänomen der Digitalisierung ist deren Fortschreiten und Erobern der Kinderzimmer. Was passiert, wenn Bildschirme zunehmend die Erziehungsarbeit übernehmen?

Das wäre eine unglaubliche Katastrophe. Das menschliche Gehirn ist unglaublich flexibel und resilient ist. Sogar die Mikroanatomie verändert sich in Anpassung an verschiedene Umwelten. Aber es gibt evolutionäre Normen und Vorstellungen, die nicht verletzt werden dürfen. Es gibt aktuelle Studien, die nachweisen, dass es bei sehr hohem Bildschirmkonsum in ganz frühen Jahren zu strukturellen Veränderungen im Gehirn kommt. Der Bildschirm an sich ist für das Kleinkind nicht giftig, aber er ist eine Konkurrenz für die richtige Betreuung, die ein Kind erwartet und braucht. Ein Bildschirm kann nicht die soziale Fürsorge für Babys oder die selbstständige Beschäftigung von kleinen Kindern mit ihrer Umgebung ersetzen. Da müssen wir wirklich aufpassen.

Ist uns der Hausverstand abhanden gekommen?

Der Hausverstand ist eine zweischneidige Sache. Einerseits ist tatsächlich etwas falsch gelaufen, wenn ich heute fürs Kartoffelkochen mein Smartphone befragen muss. Andererseits hat man mit dem gesunden Hausverstand schon jede Menge ideologischen Wahnsinn gerechtfertigt. Was wir brauchen, ist den Alltagshausverstand, der durch Erfahrungen schon in den frühen Kinderjahren gebildet wird. Die Selbsttätigkeit und Kreativität ist für heutige Kinder wegen des ganzen Angebots gar nicht mehr so leicht.

Und später im Leben? Was macht der Fortschritt mit uns?

Unser hochgetuntes Gehirn ist offensichtlich relativ anfällig gegenüber suboptimalen Bedingungen. Wenn das soziale Umfeld oder die Arbeitsbedingungen nicht passen, fallen die meisten Menschen in irgendeine mentale Störung. Diese Anfälligkeit findet man bei anderen Tieren nicht, weil sie nicht so komplex organisiert sind, weil ihr Gehirn nicht wie jenes der Menschen ein Formel 1-Motor, sondern ein kleiner 400 Kubikzentimeter-Motor ist. 

Sind wir also gar nichts Besonderes – obwohl wir uns gerne selbst so sehen?
Wir sind als Menschen eine Art wie andere Lebewesen auch. Im Vergleich zu anderen Tieren haben wir zwar eine unglaubliche Fülle von menschlichen Universalien – also Eigenschaften von instinktiven Komponenten bis zu sozialen Reaktionsnormen, die uns mehr einen als trennen. Die kulturellen Unterschiede werden diesbezüglich gewaltig überschätzt. Wenn man jedoch die menschlichen Alleinstellungsmerkmale betrachtet, bleibt herzlich wenig über. Aber es bleibt etwas über.

Was?
Dass wir symbolsprachliche Fähigkeiten haben, die es uns ermöglichen, mentale Zeitreisen nicht nur zu machen, sondern auch miteinander zu teilen. Dass wir eine Philosophie und Logik entwickeln und darüber reflektieren. Dass wir formalisiertes Denken produzieren ist einzigartig menschlich. Wölfe, Wale und Schimpansen und andere Tiere sitzen nicht zusammen, um über Gott und die Welt zu philosophieren.


Diese Fähigkeit birgt aber die Gefahr der Selbstüberhöhung.
Der Größenwahn gehört genauso zum Menschen wie alles andere. Auch das Transzendieren von einem Natur- in ein Geisteswesen, dieses Emanzipieren auf Teufel komm raus von Natur und Tier, ist ein gerüttelt Maß an Größenwahn. Aber unsere Herkunft, also dass wir sehr eng mit anderen Tieren waren, war den Menschen eine Zeitlang ziemlich peinlich. Unsere Vorfahren gingen auf Mammut-Jagd, was ziemlich irrational war, denn die Lebensräume waren damals voll mit jagdbarem Wild, das man leichter erwischt hätte und das weniger gefährlich war. Schon damals dürfte das keine rationalen Gründe gehabt haben, sondern dem Muster gefolgt sein „je größer das gejagte Tier, desto größer das Prestige“. Heute fantasieren wir darüber, dass wir bis zum Mars fliegen. Es ist ein gehöriges Maß an Eskapismus dabei: Wenn uns die Probleme auf der Erde über den Kopf wachsen, dann fliegen wir eben weg – was uns am Ende aber nicht viel nutzen wird.

Sie bezeichnen den Tod als „obszönsten Scherz der Evolution“ Warum?
Man sammelt im Laufe eines Lebens Wissen und Erfahrung an, wird fokussierter. Ich weiß nicht, ob man das Weisheit nennen kann. Wenn man dann, so mit 80 Jahren, am Höhepunkt ist, stirbt man. Also wenn es Gott gibt, dann ist das schon ein Scherz. Andererseits gibt es Leute in Labors, die mit viel finanziellem Aufwand und sehr ernsthaft an der Unsterblichkeit arbeiten. Das klingt verrückter als es ist und man wird da in den nächsten Jahrzehnten große Fortschritte machen. Dann wird sich allerdings die Frage stellen, ob wir dafür optieren werden, das Mögliche auch anzuwenden. Möchten Sie unsterblich sein? Ich bin mir nicht so sicher, ob ich das will.