Kurzer Rückblick: Vor zwei Jahren veröffentlichte Martin Walser seinen Roman „Ein sterbender Mann“. Zentrales Thema: die anonyme Kontaktaufnahme mit Selbstmordforen im Internet. Auf einer der Innenseiten des Buches dankte der Dichter der Sinologin Thekla Chabbi für ihre schöpferische Mitwirkung an diesem Roman. Die eigentlich durchaus berechtigte Frage, wie weit diese Co-Autorinschaft denn nun gediehen sei, verwandelte Walser in einen Wüterich. Er riss das Buch in die Höhe, fuchtelte damit herum und tobte: „Auf dem Cover steht Walser. Und wo mein Name draufsteht, da ist auch nur Walser drin.“ Chabbi, die ihn bei den Lesetourneen auf Schritt und Tritt begleitete, hätte die Frage gewiss leicht beantworten können. Aber sie zog es vor, zu schweigen.

Dreiecks-Beziehung


Nun hat Martin Walser, der kürzlich seinen 91. Geburtstag feierte, in unbändiger Schaffenslust ein neues Werk veröffentlicht, das eindeutig aus seiner Feder stammt. „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“ nennt sich die 112-Seiten Dichtung, die sich vorrangig als zeitgemäßer Briefroman entpuppt. Walser aktiviert einen frühpensionierten Oberregierungsrat, seit etlichen Jahren verheiratet, der sich in seinen Blogs über die moralischen Mühen seiner Dreiecksbeziehung beklagt. Ab und zu lässt Walser seiner Provokationsfreude freien Lauf. Er streift die „#Me Too-Debatte“ mit unterschwelligen Zynismen, zudem landete sein Sprachrohr nach einer Grapschaffäre im Ausgedinge. Ach, Zauselporno. Und auch Donald Trump bekommt Lob ab. Der überwiegende Rest aber gleicht Begegnungen mit alten Bekannten, die soeben beim Friseur gewesen sind. Denn viele der Erkenntnisse, die oft im Nahbereich von Aphorismen stehen, sind längst geläufig, nun kommen sie halt gebürstet und onduliert wieder des Weges. Walser gab und gibt sich gerne preis, viel Brillantes entstand daraus, warum er es aber nun um jeden Preis tut, bleibt reichlich unklar. Ein „Best of Walser“ hätte es auch getan.

Parallelaktion


Fast gleichzeitig ist der Debütroman von Thekla Chabbi erschienen. „Ein Geständnis“ nennt sich der Erstling, als Krimi in mitunter sonderbar hohem philosophischen Ton lässt er sich halbwegs kategorisieren. Es ist die „Stimme einer verletzten Seele“, die sich da meldet, fest überzeugt, ein restlos verpfuschtes und sinnloses Dasein zu führen. Einmal noch keimt in Amelie Frank, angestellt in einer Anwaltskanzlei, Hoffnung auf – durch eine Liebe mit Hindernissen.
Denn in erotischen Bereichen zeigt sich ihr Lover völlig lendenlahm. Also erwirbt sie auf dem Schwarzmarkt sogar Viagra; ein Schuss, der nach hinten losgeht. Betrug und Liebesverrat sind die Folgen. Deutlich wird, dass Chabbi in all ihren sprachskeptischen Abschweifungen im Nahbereich von Martin Walser steht, auch in ihrer Sehnsucht nach „Metaphernjungfräulichkeit“. Aber gar nicht zum noblen Stil passt am Ende die Beschimpfungsorgie der rachsüchtigen Hauptfigur. „Du füllst mein Lebensmosaik mit Stumpfsinn. Herz und Kopf hast du mit Mörtel aus Schmerzen zementiert ... das erledigte Herz ein Eiszapfen. Leck mich am Arsch.“ Rawumms.
Auf dem Buchrücken ist eine Lobeshymne zu finden, über die „fantastische Genauigkeit“ und Poesie der Autorin. Sie stammt – von Martin Walser. Dem, der gar alles will.

Martin Walser. Gar alles. Rowohlt, 112 Seiten, 18,50 Euro.
Thekla Chabbi. Ein Geständnis. Piper. 272 Seiten, 22,70 Euro.