Schon als Kind war Michael Köhlmeier von Märchen fasziniert, heute gilt der bekannte Nacherzähler als Instanz für Mythen- und Sagenstoffe. In seinem Essay "Von den Märchen. Eine lebenslange Liebe" taucht der Vorarlberger Autor tief ein in ihre rätselhafte Welt und macht sich auf einen Streifzug durch ihre kontroversielle Geschichte und seine von Erzählungen und Erzählern geprägte Kindheit.

Wer es bisher nicht wusste, weiß es nach der Lektüre dieses Buches: Er liebt sie einfach. Seine Faszination für Märchen, vielleicht sogar seine literarische Sozialisation, begann für den 1949 geborenen Michael Köhlmeier mit den Brüdern Grimm: "Märchen sind die Primzahlen der Literatur, und mein erstes Märchen war Herr Korbes." Seine Großmutter erzählte ihm Märchen in ihren eigenen Worten, unaufgeregt und lakonisch, ohne erhobenen Zeigefinger und ohne Deutung. Märchen standen für sich, rätselhaft, beunruhigend und keine Erlösung bietend.

Dem gegenüber stand Köhlmeiers für Geschichte brennender, rationaler Vater, der gerne von Napoleon erzählte, aber verlegen wurde, wenn er etwas so vermeintlich Simples wie ein Märchen erzählen sollte. "Die Märchen - so vermute ich, dass mein Vater dachte - kommen aus dem Keller. Dort machen sie sich von selbst. Gerade daran erkennt man sie. Dort brauen sie sich zusammen", heißt es. Als Germanistikstudent in den 1960er-Jahren, der sich als Linker und Antifaschist verstand, behielt Michael Köhlmeier seine Leidenschaft für sich, da Märchen als Kinderliteratur und in Hinblick auf die NS-Zeit als verdächtig galten. Und begann doch, Märchenbücher zu sammeln, egal ob Sage, Märchen oder Legende, und "heimlich vor mir selbst" Märchen zu schreiben: "Ich habe geschrieben, ohne zu denken. (...) Ich habe es schreiben lassen."

Köhlmeier erzählt in seinem Essay gewohnt gekonnt und in seinem unverwechselbaren Ton von den Märchensammlern Brentano, Arnim und natürlich von den Brüdern Grimm, die, um gegen die Franzosen eine deutsche Identität zu errichten, aus Versehen französische Märchen zu hessischen machten, es schließlich aber "nicht mehr so genau" nahmen und schlicht danach auswählten, "ob eine Geschichte gut war oder nicht". "Die Märchen waren ihnen wertvoller als die Nation, zu deren Erhebung und Sanktionierung sie hätten dienen sollen - Wie sympathisch!", so Köhlmeier über die Brüder. Werden Märchen vor einen pädagogischen oder ideologischen Karren gespannt, zeigt sich Köhlmeier gar nicht einverstanden.

Von der Bedeutung von Märchen bei der Identitätssuche der deutschen Romantiker spannt Köhlmeier den Bogen über den Missbrauch der Gattung durch die Nationalsozialisten bis hin zu Franz Kafka. "Eine Symbiose aus den Märchen der Brüder Grimm und Franz Kafka - diesem Leitbild habe ich als Märchenerzähler nachgeeifert und tu es bis heute", bekennt Köhlmeier. In seiner Hommage an die Märchen zeigt sich nicht nur seine lebenslange Liebe zu der Gattung, sondern auch sein beeindruckend großes Wissen darüber.