Nichts ist so beklemmend wie die nahe Zukunft. Das hat Michel Houellebecq mit seiner "Unterwerfung" klargestellt und natürlich George Orwell in "1984". Eine eben nicht unvorstellbare Dystopie, ein alltagsnaher Thriller, Psycho- und Politdrama - das ist auch Juli Zehs neuer Roman "Leere Herzen". Auf eine kluge Konstruktion hat die deutsche Autorin aber eher mageres erzählerisches Fleisch gepackt.

Angela Merkel hat aufgegeben, an der Macht ist die nationalistische Besorgte-Bürger-Bewegung, die in "Effizienzpaketen" scheibchenweise die Demokratie abschafft - und in der Bevölkerung weitgehend von unpolitischem Gleichmut akzeptiert wird. Man richtet sich eben so ein, die paar verbliebenen Idealisten genügen sich mit zynischen Kommentaren im Freundeskreis oder allenfalls zahnlosen Theaterperformances. Britta gehört nicht dazu. Sie hatte schon immer einen Riecher für den Zeitgeist, zog schon damals ins quadratisch, praktisch, gute Braunschweig, als es noch chic war, in Metropolen zu leben. Einfamilienhäuser aus Beton, leicht zu säubern, übersichtlich und unkompliziert.

Auch beruflich liegt die Unternehmerin im Trend. Ihre Suizidpräventionspraxis "Die Brücke" hat eine hohe Erfolgsquote - und noch mehr Erfolg mit dem kleinen Rest der Unheilbaren: Wer Britta und ihren Partner Babak in einem ausgeklügelten Verfahren samt Klinikaufenthalt, Waterboarding und Scheinexekution davon überzeugen kann, wirklich und unbedingt sterben zu wollen, den vermitteln sie als Attentäter lukrativ an ihre Kunden: Daesh zum Beispiel, die nach Abklingen der islamistischen Radikalisierung gut für Selbstmörder zahlen, aber auch Umweltfreaks und Unabhängigkeitsfanatiker. Nach der Arbeit holt sie ihre Tochter vom Hort ab und trifft sich am Spielplatz zum Play-Date mit einer befreundeten Mutter.

Zwischen Terrorbusiness und Curryrezepten

Für die Zeichnung und Schattierung ihrer Protagonistin wendet Zeh viel Geschick auf, erschafft eine glaubwürdige, durchaus sympathische Pragmatikerin zwischen Terrorbusiness und Curryrezepten, die einen etwaigen moralischen Zwiespalt mit gewandter innerer Rhetorik und chronischen Magenschmerzen meistert - bis ihr sorgfältig geschmiedetes Doppelleben zu erodieren beginnt. Rührt sich etwa Konkurrenz auf ihrem hochspezialisierten Markt? "Full hands, empty hearts. It's a suicide world, baby", lautet der Soundtrack zum Buch. Und das Motto einer Verschwörung...

Juli Zeh hat ein kluges Gerüst für ihre Geschichte gebaut und spielt darin gleich mehrere gefährliche gesellschaftliche Trends gegeneinander aus: Die vermeintlich überlegene Position von nüchterner Abgeklärtheit und persönlichem Opportunismus ist vor massiver Verunsicherung ebenso wenig sicher wie die naive Gutgläubigkeit von Brittas Freunden, die ihren unverdorbenen Idealismus mit Scheuklappen auf das eigene Privatleben beschränken. Bleiben die Überzeugungstäter, die Aktivisten für das subjektiv Richtige - doch denen kann man am allerwenigsten trauen. "Leere Herzen" haben sie eigentlich alle.

Aber abseits dieser unbarmherzigen Diagnose bleibt auch die Geschichte selbst blutleer. Neben der Tiefenschärfe der Protagonistin wirken die anderen Figuren verschwommen, ihre Motive konstruiert, ihre Handlungen schablonenhaft. Das entbehrt mitunter nicht einer gewissen Komik, ist aber schlecht für den Nervenkitzel. Und auch der Plot versteigt sich nach einer kunstfertigen Exposition, die fast die ganze erste, deutlich stärkere Hälfte des Romans einnimmt, in manchen unlogischen Details und falschen Fährten. Am Ende gibt es so etwas wie eine zweischneidige Hoffnung: Indem alles noch schlimmer wird - aber zumindest die Herzen nicht mehr ganz so leer sind. "It's a suicide world, baby", tönt es mantraartig aus dem Lautsprecher. Mit Gesang und Klavier wird Zeh den Roman auch in Wien präsentieren: am 7. Mai 2018 im Konzerthaus.

S E R V I C E - Juli Zeh: "Leere Herzen", Luchterhand, 348 Seiten, 20,60 Euro. Juli Zeh liest am 7. Mai 2018 im Wiener Konzerthaus.