Es hätte so sein können. Oder ganz anders. Das Schweben zwischen Wirklichkeit und Phantasie, die Wechselwirkungen zwischen Unterbewusstsein und Realität, das Spiel mit dem Konjunktiv beherrscht Paulus Hochgatterer wie kein Zweiter. Sieben Jahre nach seinem letzten Buch, „Das Matratzenhaus“, legt der schreibende Kinderpsychiater mit der rund 100 Seiten langen Erzählung „Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war“ wieder ein starkes Stück Literatur vor. (Gleich vorweg: Mit dem „Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg“, hat diese Großvater-Story nichts zu tun!)
Wieder steht ein 13-jähriges Mädchen im Zentrum der Geschichte, die raffiniert wie ein Vexierbild gebaut ist: Nelli, die Ich-Erzählerin, ist – nach einem Bombenangriff offenbar ohne Erinnerung – von einer Bauernfamilie in der oberösterreichischen Provinz aufgenommen worden. Im März 1945, als „die Schwalben wieder da sind“ und die kriegsgeprüfte Bevölkerung längst schon „die Flugzeugtypen am Geräusch“ erkennt, strandet auch ein geflohener russischer Zwangsarbeiter auf dem Hof. Er ist Maler, ein „Suprematist“ in der Art von Malewitsch, und hat ein geheimnisvolles Bild im Gepäck. Als sich dann noch drei Wehrmachtssoldaten auf dem Rückzug bei der Bauernfamilie einquartieren, eskaliert die Situation an ebenjenem „Tag, an dem mein Großvater ein Held war“. Aber war er es wirklich? Hat er sich tatsächlich dem Nazi entgegengestellt, als der den Russen erschießen wollte?

Geschichten in Geschichten


Aus drei vorangegangenen Kapiteln, die der Autor als Geschichten in der Geschichte erzählt, weiß der Leser: „So hätte es sich am ehesten abgespielt. Die Geschichte „vom nicht ertrunkenen Kind“, die „vom nicht erhängten Soldaten“ und die „vom nicht erschossenen Suprematisten“ hätten so, aber auch ganz anders sein können, heißt es dabei rätselhaft. Schon im ersten Kapitel rund um die kindliche Ich-Erzählerin Nelli sind Hinweise auf diese eingeschobenen Exkurse zu finden. Die raffinierte Bauweise macht aber nur einen Teil der Faszination des knappen Textes aus. Vor allem ist es die klare und präzise Sprache, sind es die stimmigen Bilder, ist es die Glaubwürdigkeit der Figuren, die Hochgatterers Erzählung trotz ihrer Kürze zu einem wuchtigen Kammerspiel machen.
Vorangestellt ist der Erzählung ein Zitat des italienischen Philosophen Giorgio Agamben über den „Ausnahmezustand“, den er als „Niemandsland zwischen Rechtsordnung und Leben“ versteht. Paulus Hochgatterer moralisiert ohne erhobenen Zeigefinger, aber eindringlich und lebensnah: Was geschieht? Und was hätte alles geschehen können? – Ein Buch zum Immer-wieder-Lesen!

Lesetipp: Paulus Hochgatterer: Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war. Deuticke. 112 Seiten, 18,50 Euro.