Es war kein klassisches Interview. Dieses Korsett ist Gerhard Roth zu eng. Viel lieber mäandert er im Gespräch lustvoll durch seine vielverzweigten Ideen- und Gegeschichtswelten. Dieses vielstündige Treffen fand in Roths paradiesischem Refugium in der Südweststeiermark statt. Wobei: Paradies ist auch relativ, aber davon mehr im folgenden Gespräch. Unter einem gleichsam aus- und einladenden Nussbaum, wo sich der Schriftsteller auch liegend seine „Schreibstatt“ eingerichtet hat, sprachen wir über seinen neuen Romanzyklus, über Venedig, über Verbrechen und Täuschungen; aber auch darüber, was das Alter aus einem Menschen macht und ob es so etwas wie Milde im Reifen gibt. Gerhard Roth wird am 24. Juni 75 Jahre alt. Das Szenario also: Einblicke in die Welt des Schreibens, Ausblicke auf samtig-grüne Hügel, die sich in der flirrenden Hitze ducken. Wir sind ungestört, denn auch die lästigen Wespen bleiben fern. Sie suchen das Weite, weil sie sich durch die Attrappe eines Hornissenkrugs verwirren lassen – und flüchten. Täuschung also allerorts.

Herr Roth, was bewirkt dieser Geburtstag in Ihnen?
GERHARD ROTH: Mit 75 muss man auf alles gefasst sein.

Verspüren Sie Altersmilde?
GERHARD ROTH: Mit Milde fange ich nichts an.

Sie haben Venedig zu einem neuen Lieblingsort erkoren. Das verwundert nicht, aber da steckt ja auch noch mehr dahinter.
GERHARD ROTH: Ich liebe das Café Florian, auf jeder Venedig-Reise bin ich dort und mache seit vielen Jahren etliche Notizen. Dort ist, neben vielen anderen Autoren, schon der Marcel Proust gesessen. Auf seiner Suche nach der verlorenen Zeit hat er wunderbar über Venedig geschrieben.

Im September wird Ihr nächster Roman erscheinen, Schauplatz ist Venedig, wann nahm das Projekt Kontur an?
GERHARD ROTH: Am Anfang, ab 2004, waren es wohl eher private Recherchereisen. Und wenn es interessant ist, schreibe ich darüber. Ich war jetzt das erste Mal auf der Insel Sant’Erasmo, das ist diese Gemüseinsel in der Lagune von Venedig. Ich bin dort ausgestiegen – und da war zuerst nichts. Es war heiß, eine lange Straße. Auf einmal eine Brücke über einen stillen Kanal und ein kleines Hotel. Das hat mir dann so gefallen, dass ich den ganzen Tag dortgeblieben bin.

Wer lebt auf dieser Insel?
GERHARD ROTH: Gemüsebauern. Sie bauen vieles dort an, unter anderem Spargel und Artischocken.

War die Insel ein Zufallsfund?
GERHARD ROTH: Nein, das habe ich schon im Notizbuch festgelegt, dass diese Insel in einem der nächsten Bücher eine Rolle spielen wird. Aber ich hatte keine Ahnung, wie sie genau ausschaut. Auch auf Sant’Erasmo gibt es übrigens k. u. k. Spuren, Reste aus der Habsburgermonarchie, wie überall in Venedig.

Ihr schriftstellerisches Leben lässt sich in Zyklen einteilen: Zuerst die „Archive des Schweigens“, dann „Orkus“. Der zuletzt erschienene Roman „Grundriss eines Rätsels“ war eine Art Epilog. Was genau kommt jetzt?
GERHARD ROTH: Simpel betrachtet könnte man die neuen Bücher als Kriminalromane bezeichnen, aber es sind Verbrechensromane. Der Unterschied ist: Ich erkläre dem Leser, was wirklich war, aber der Kommissar erfährt immer nur die halbe Wahrheit. Dieser Kommissar kommt in allen drei Büchern vor.

Und dieser Kommissar scheitert immer?
GERHARD ROTH: Fast immer. Erst im letzten Band erzählt ihm jemand etwas Wahres. Aber der Leser wird so von mir manipuliert, dass er glaubt, alles zu wissen. Es gibt im Prinzip zwei Methoden des Schreibens: Entweder man gibt gleich alles preis oder, und diesen Weg habe ich gewählt, man erfährt durch die Bücher immer mehr über die Menschen, die darin vorkommen.

Gibt es schon einen Zyklustitel für diese neue Trilogie?
GERHARD ROTH: Nein, aber die Geschichten habe ich im Kopf. Und vom zweiten Band gibt es ja auch schon eine Rohversion. Das erste Buch heißt „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“. Die Hauptfigur ist ein Maestro suggeritore, das ist eine Mischung aus Souffleur und Kappellmeister. Ein hochgebildeter Mensch, der seinen Bruder in Venedig besuchen will. Der aber ist mitsamt seiner Frau scheinbar spurlos verschwunden.

Mit dieser Trilogie an Verbrechensromanen starten Sie also den dritten Zyklus. Lässt Sie das Personal der anderen Zyklen mittlerweile in Ruhe?
GERHARD ROTH: Lange Zeit haben mich die Menschen im „Orkus“-Zyklus nicht losgelassen. Hamlet war dann die Rettung. Er hat alle umgebracht. Das habe ich auch mit meinen Romanfiguren gemacht. Ich habe gesagt: Weg, ihr habt in meinem Kopf nichts mehr verloren!

Alte Bücher von Ihnen selbst legen Sie weit weg. Warum aber hat sie der „Landläufige Tod“, der gerade in einer neuen Edition erschienen ist, weiter beschäftigt?
GERHARD ROTH: Deshalb, weil dieses Buch nie vollständig gedruckt wurde. Als es erschienen ist, im Jahr 1984, waren dicke Bücher nicht in Mode; also wurde vom Verlag gekürzt, einzelne Kapitel sind völlig extrahiert worden und anderswo erschienen. Jetzt gibt es endlich die Gesamtversion.

Sie wirken entspannter, gelassener in den letzten Jahren.
GERHARD ROTH: Das hat vielleicht damit zu tun, dass ich nach einer schweren Krankheit auf der Fantasiestation, pardon, ich meine natürlich Intensivstation, gelegen bin.

Ein schöner Versprecher!
GERHARD ROTH: Ja, eigentlich schon. Es hatte auch mit Fantasie zu tun; insofern, als während dieser Zeit sehr viel an mir vorübergezogen ist. Der Primarius damals hat zu mir gesagt, er habe noch nie erlebt, dass jemand zu Fuß mit einer beidseitigen Lungenembolie ins Spital gegangen ist und lebend wieder hinaus. Diese Krankheit zu überleben hat mir viel Kraft gegeben.

Wieder zur Fantasie bzw. zur Mischung aus Wahrheit und Fiktion: In Ihrem Werk fällt auf, dass keine markanten Frauenfiguren vorkommen.
GERHARD ROTH: Einige kommen schon vor. Die Mutter, die Großmutter, im „Alphabet der Zeit“. Ich war nie verschlossen. Als Frau würde ich wahrscheinlich eine weibliche Hauptrolle in meinen Büchern haben. In den Büchern von Kafka gibt es auch wenig Frauenfiguren. Ich kann und will es auch nicht allen recht machen. Außerdem glaube ich, dass diese Mann-Frau-Perspektive überschätzt wird. Wichtig ist, schöpferisch zu sein – also aus sich zu schöpfen. Wichtig ist auch, kindlich zu bleiben.


Wie würden Sie dieses Kindliche definieren?
GERHARD ROTH: Das Kindliche muss man bewahren, ohne es hochzuzüchten. Das ist wichtig für jeden Künstler. Es bedeutet: große Sensibilität, große Empathie, die Welt willkommen heißen. Aber noch einmal zu Mann und Frau: Sie sind gleichwertig, aber nicht gleich. Mit dem Wolfi Bauer habe ich viel über Frauen gesprochen. Er hatte ein unglückliches Händchen, hat immer Narrische gehabt.

Und Sie?
GERHARD ROTH: Bodenständige.

Brauchen Sie eine weibliche Erdung?
GERHARD ROTH: Ja, unbedingt! Und jetzt, mit Senta, ist der Glücksfall eingetreten, dass auch sie voll Neugier ist. Es hat noch nie eine gefährliche Situation gegeben, in der sie gesagt hätte: „Nein.“

Sie haben auch politisch immer wieder Stellung bezogen. Zuletzt, das fällt auch bei anderen Autoren auf, wird es eher still bei der politischen Kommentierung. Warum ist das so?
GERHARD ROTH: Die Frage wird mir oft gestellt. Ich kann nur so antworten: Mit zunehmendem Alter kann man nicht mehr so viele parallele Aktivitäten setzen.

Es fehlt also die Zeit, nicht die Meinung.
GERHARD ROTH: Eine Meinung habe ich nach wie vor.

Sie sehen und schreiben ja durch ein Mikroskop. Wenn Sie damit die politische Landschaft betrachten, was sehen Sie dann?
GERHARD ROTH: Es gibt die Frau Le Pen, den Herrn Orbán, den Herrn Trump. Und auf der anderen Seite den neuen Wundermann, den Herrn Macron. Ich bin froh, dass es so einen Hoffnungsträger gibt. Einen, der weder rechtsextrem noch linksextrem ist, sondern seinen eigenen Weg sucht. Ich bin aber nach wie vor ein Pessimist in politischen Fragen.

Immer deutlicher wird derzeit die Sehnsucht nach einer Führerfigur, wobei mitunter seltsame Kriterien ins Spiel kommen, bis hin zum Aussehen. Steigert das Ihren Pessimismus?
GERHARD ROTH: Viele, nicht nur die Jugend, behaupten: „Es soll einmal jemand ordentlich sagen, wie es sich gehört.“ Aber das lässt sich mit Demokratie sehr schwer vereinen, weil man sehr schnell am Rand der demokratischen Möglichkeiten angelangt ist. In Österreich wird die ÖVP auf einen Mann umgefärbt, die SPÖ stellt momentan noch den Kanzler. Aber es gibt in der Politik keine Wunder. Allerdings sehe ich derzeit einige Gefahren.

Welche konkret?
GERHARD ROTH: Alles, was wir so schwer erkämpft haben, ist wieder auf Rückzug eingestellt. Wir haben zum Beispiel gekämpft für eine Säkularisierung von Kirche und Staat. Ich bin in eine katholisch-christliche Welt hineingeboren worden, der Stacheldraht war Richtung Ungarn, die Autorität patriarchalisch. Jetzt müssten auch die Parteien sich fragen: Welches Bild vertreten wir denn genau? Die Selbstkritik ist jedenfalls nicht sehr ausgebildet. Zudem ist eine Jugend herangewachsen, ohne Kriege, ohne schwere wirtschaftliche Krisen. Und diese Jugend hat natürlich ganz andere Vorstellungen, als wir sie hatten. Und für die Jugend ist es ja zum Beispiel ein Naturgesetz, dass es Sozialgesetze gibt. In Wahrheit ist das eine der größten Errungenschaften der Menschheit.

Zurück zur Literatur. Venedig, immer wieder Venedig. Warum ist diese Touristenhölle der Himmel für Sie? Zumal die Masse an Venedig-Büchern kaum noch zählbar ist.
GERHARD ROTH: In Venedig ist man in einer anderen Wirklichkeit. Ungefähr 2004 habe ich, wie schon erwähnt, begonnen, die ersten Notizbücher zu schreiben und die ersten Fotografien zu machen. Dann hat mich eines Tages ein orientalisches Museum fasziniert, es war voll mit Samurai-Utensilien. Dort hatte ich die Idee, dass sich ein Mann täglich in diesem Museum aufhält – erst später hat das zum Mord geführt. Im Roman.

Wenn wir schon beim Verraten sind: Wo könnte man den neuen Zyklus verorten?
GERHARD ROTH: Der Anfangsgedanke war: Was macht ein Souffleur, also ein Maestro suggeritore, den ganzen Tag? Und in dessen Psyche habe ich mich hineingestürzt. Der Maestro erleidet einen Hörsturz, darf nicht mehr an der Wiener Staatsoper arbeiten, besinnt sich auf seine zweite Begabung – die Zauberei – und fährt dann zu seinem Bruder nach Venedig.

Es geht dann im weiteren Verlauf, wie oft bei Ihnen, um Tarnen und Täuschen; um das Verschwinden von Menschen, um Schuld und Sühne auch. Um, womit sich der Kreis wieder schließen könnte, Himmel und Hölle.
GERHARD ROTH: Die drei Romane des neuen Zyklus stellen Paradies, Hölle und Fegefeuer dar. Das Paradies ist natürlich eine Fälschung. Aber ohne diese Fälschung können wir nicht leben.

Wir befinden uns wieder in einem Roth’schen Irrgarten?
GERHARD ROTH: Jeder Mensch wird in ein Labyrinth hineingeboren. Und das ganze Leben besteht darin, sich in diesem Irrgarten zurechtzufinden. Aber in der Kunst ist die Menschheitsgeschichte viel besser aufgehoben als bei den Historikern. Wie ja auch das Märchen den Erkenntnissen der Tiere weitaus näher ist als die Naturwissenschaft.

Wie gut aber ist das Krimi-Genre bei Gerhard Roth aufgehoben?
GERHARD ROTH: Es gibt einen Satz von Gertrude Stein, in der Kriegsgeschichte „Brewsie and Willie“ über zwei Soldaten. Am Ende versuchen sie, eine Erklärung zu finden für all das, was da passierte. Und der intelligentere der beiden sagt den wunderbaren Satz: „Es gibt keine Antwort. Es wird nie eine Antwort geben. Es hat noch nie eine Antwort gegeben. Es gibt keine Antwort.“

Wunderbar, in der Tat. Was leiten Sie als Autor daraus ab?
GERHARD ROTH: Es ist ein Lehrsatz für Schriftsteller. Ich glaube, ein Schriftsteller ist nicht dazu da, Antworten zu geben, sondern Rätsel zu verfassen, die er selbst nicht lösen kann. Die Kriminalromanküche schreibt auch die Lösung vor. Ich verstehe das ja, als Leser will ich die Lösung ja ebenfalls wissen. Aber als Autor interessiert mich das Verbrechen weitaus mehr als die Lösung. Und, darin liegt ja auch eine eigene Faszination: Rätsel fallen mir beim Schreiben fast ständig ein.

Antworten zum Glück auch. Wir danken und gratulieren.