Ein Abend in St. Ulrich im Greith, tief im Südweststeirischen, der letzte öffentliche Auftritt vor dem 70er am 22. März. Auf der Bühne eine Palme, vielleicht eine Anspielung auf den Gast, den marokkanischen Südling. Auf dem Tisch Tee und ein Glas Wasser. Im Fernsehen spielt das Nationalteam. André Heller ermächtigt Gerhard Roth, den Schriftstellerfreund in Reihe eins, zu Zwischenrufen, sollte ein Tor fallen.

Herr Heller, zählen Sie zu den Süchtigen?

ANDRÉ HELLER: Süchtig war ich zwischen meinem 20. und 32. Lebensjahr, solange ich als Popstar aufgetreten bin, da habe ich Drogen genommen, und zwar ziemlich interessante.

Was für ein Zeug war das?

Der Falco singt in einem Lied drüber, eine merkwürdige Geschichte. Ich war als Sänger unprofessionell. Es ist 20 Uhr, vier-, fünftausend Leute haben Eintritt bezahlt und man muss auftreten, und das konnte ich nicht. Man singt entweder, weil man besonders traurig oder besonders gut aufgelegt ist, aber nicht, weil es 8 Uhr ist und die Leute Eintritt gezahlt haben. Die Profis können das natürlich, ein Peter Alexander, ein David Bowie. Die haben das alle können.

Wie haben Sie sich von den Angstzuständen befreit?

Ich hab das nicht mehr können. Ich war verzweifelt. Ich wollte dann Geschichten erzählen, aber nicht singen. Dann musste man den Leuten das Geld zurückgeben, weil ich mich weigerte, weiterzumachen. Dann habe ich gemerkt, dass es etwas gibt, was mir hilft. Ich war damals mit der schönen, klugen Schauspielerin Gertraud Jesserer liiert. Wir haben gestritten in einer Ausweichwohnung, die ich damals in Wien gehabt habe. Bevor wir zu streiten begonnen haben, habe ich ein Schlafmittel genommen. Heute ahne ich, wenn ein Streit kommt, damals habe ich das noch nicht in meinem System gehabt. Wir streiten und streiten und plötzlich werde ich immer glücklicher.

Was war es?

Das war ein Mittel, das euphorisiert hat, wenn man es übertaucht hat. Nach einer halben Stunde habe ich zu Traudl gesagt: „Du, mir ist es noch nie so gut gegangen wie in diesem Streit.“ Und sie sagt: „Was ist los mit dir?“ Und ich sag: „Ich weiß auch nicht.“ Dann habe ich etwas Seltsames gemacht. Ich bin zum Kasten gegangen, wo meine Hosen hingen, und habe begonnen, die Hosen zu zerreißen, mit einer Kraft, die mir zuvor unbekannt war.

Und diesen Zustand übertrugen Sie auf die Bühne?

Ja, ich habe mir gedacht, wenn du das nimmst, bevor du auf die Bühne gehst, das beim Singen übertauchst, dann kommst du in eine Euphorie und in die Vorstellung, du könntest fliegen. Das habe ich dann viele Jahre gemacht, was verrückt und ungesund war, weil ich zum Einschlafen wieder zum Mittel greifen musste, und zwar in einer höheren Dosierung. Irgendwann habe ich dann mit der Restvernunft gesagt, ich will nicht werksabhängig sein von Ciba Geigy und Hoffmann-La Roche. Ich hab aus Eigenem aufgehört und hatte furchtbare Entzugserscheinungen.

Wie haben sich die geäußert?

Ich hab mich neben die Sessel gesetzt, so ein halbes Jahr, oder habe mich mit der Gabel in die Wange gestochen, weil ich meinen Mund nicht gefunden hab. Und dann habe ich entschieden, dass ich mit der Karriere aufhöre. Es hat mit gutgetan, keine Konzerte mehr zu geben, keine Platten zu machen und keine Mittel mehr zu nehmen.

Haben Sie getrunken?

Meine Universität war das Café Hawelka.

Gehen Sie da noch hin?

Ich war 25 Jahre nicht mehr dort. Im Hawelka wurde getrunken, wie andere Leute geatmet haben. Das ist für viele schlecht ausgegangen, vor allem für den geliebten Freund Helmut Qualtinger, der ...

... nur 59 wurde.

Ja, er hat auch schon davor 25 Jahre nicht mehr wirklich funktioniert, hat nicht mehr gut schreiben können. Ich habe ihn sehr geliebt und habe gesehen, da ist etwas in dem Zeug, was einen unterhöhlt. Ich hab's beim Oscar Werner gesehen und bei den jungen Dichtern wie dem Wolfi Bauer. Das hat mich alarmiert. Ich hab früh versucht, eine Sympathie für mich zu entwickeln, was noch nicht heißt, eine Freundschaft, das kam erst viel später.

Konnten Sie sich leiden?

Nein, ich habe begonnen als jemand, der ganz im Unreinen mit sich war, der eine Denk-Akne hatte und der dauernd Potemkinsche Dörfer baute, in denen er gelebt hat. Damit einem ja niemand draufkommt, wie es einem geht.

Sie waren hochmütig.

Ich war arrogant. Als 21-Jähriger habe ich immer so das Gefühl gehabt, ich bin ein verarmter Renaissance-Prinz, der vollkommen auf den Hund gekommen ist, das aber nicht zugeben durfte, weil man ja Kumpan sein wollte. Für die anderen war ich sehr von mir überzeugt. Aber in Wirklichkeit habe ich gewusst, ich will nicht jung sein. Ich habe keine Ähnlichkeit mit dem, der ich sein könnte. Ich schau nicht so aus, wie ich ausschauen will. Ich weiß noch nicht, was ich wissen möchte. Ich unternehme noch keine Reisen.

Sie wollten als ausgereiftes Genie auf die Welt kommen.

Für mich war es qualvoll zu begreifen, dass das zwanzig, dreißig Jahre dauern würde, ehe ich in eine Ähnlichkeit mit dem komme, was ich mir von mir vorstelle. So bin ich in einem Feind aufgewacht und in einem Feind eingeschlafen. Und der Alkohol war noch einmal schädigend, weil er alles verstärkte, was man gerade war. War man euphorisch, wurde man euphorischer. War man melancholisch, wurde man melancholischer. Ich war auch hochmütig gegenüber den Frauen, die liebevoll zu mir waren, und da habe ich gewusst, dass ich mich eigentlich für etwas Misslungenes halte. Ich habe immer gedacht, diese Frauen, die kann man nicht ernst nehmen, wenn sie mir erzählen, dass ich wunderbar sei. Die wissen nur nicht, wie ich wirklich bin. Da habe ich gewusst, ich muss in eine Klarheit, eine Nüchternheit, in ein Verantwortungsgefühl für mich kommen. Der Qualtinger war ein wunderbarer Freund, ich habe dem Alkohol nie verziehen, dass er erlaubte, ihn ins Grab zu drängen. Das ist die lange Geschichte, warum ich mit Wasser und Tee dasitze.

Sitzen Sie als Franzi da oder als André?

Auf meinem Geburtszettel steht Francis Charles Georges Jean André Huart. Huart ist interessant, weil mein Vater als Emigrant im französischen Widerstand war. Er war der Verbindungsoffizier von de Gaulle und dem Weißen Haus. Alle, die im Widerstand waren, hatten einen „Nom de guerre“, einen Kriegsnamen, und der war eben Huart. In meinem ersten französischen Pass steht er noch drin. Und der André war einer der Vornamen, aber in Wien kann man sich nicht André nennen, da haben nur die Friseure André geheißen. „Gehn S', Herr André, können S' mir die Wuggerl ein bisserl auffrisieren?“ Klingt nicht gut. Das geht im Ausland, André Gide, André Breton, aber in Wien geht das gar nicht.

In Ihrem Roman „Das Buch vom Süden“ lassen Sie die Hauptfigur Julian sagen: „Ich hab in Österreich immer ein Fremdsein empfunden, einen Mangel an dem, was ich Glücksluft nenne.“ Können Sie den Mangel benennen?

Ich habe eine Art von Fremdeln gehabt, seit ich denken kann. Nicht, weil die Leute mich schlecht behandelt haben oder ich mich zurückgesetzt fühlte. Zurückgesetzt in meinem Leben habe immer nur ich mich. Diese Macht habe nur ich, mir das Leben zu verbittern. Ich gebe den Kritikern keine Macht. Die Kritiker haben das Recht zu geifern, weil sie andere Notwendigkeiten haben im Leben als die meinen. Meine Notwendigkeiten sind auch vielen Leuten wieder unsympathisch, weil sie etwas Feudales, Überprivilegiertes haben. Ich glaube, dass ich manchen Leuten so unsympathisch oder verwirrend bin, dass die sagen: Das schau ich mir nicht an. Ich bin dankbar, dass die Leute von mir so emotionalisiert werden. Mein Leben ist in unruhigen Bahnen, die ich mir selber schaffe. Meine Abgründe sind mir gefährlich genug, da muss mir niemand anderer einen bereiten. Aber nein, ich habe nicht diese Österreichverstörung wie die Jelinek oder der Bernhard. Mir hat Österreich sehr viel an Freundlichkeit und Qualität entgegengebracht. Wenn wir über Heimat reden, ist für mich der Schubert Heimat, der Arnulf Rainer und die österreichische Literatur zwischen Stifter und Winkler. Meine österreichische Heimat ist transportabel. Die kann ich auch in Marokko erleben.

Dort haben Sie sich einen Garten errichtet, der noch größer und spektakulärer ist als der am Gardasee. Warum wollen Sie unbedingt das Paradies zurückhaben?

Na, dass man lebendig bleibt. Eines Tages hab ich gespürt, dass ich aufbrechen muss. Ich bin sehr gut im Abschiednehmen. Eine meiner besten Eigenschaften ist, Adieu zu sagen. Das hat mir im Leben sehr geholfen, weil ich viele erfolgreiche Unternehmungen wie Shows, die Jahrzehnte hätten laufen können, abgebrochen und gesagt habe: Das ist ja meine Lebenszeit. Ich will nicht jahrelang den Erfolg verwalten. Ich will schauen, dass ich dazulerne. Solange ich lebe, bin ich in Ausbildung. Irgendwann bin ich am Gardasee am Balkon gesessen und dachte, da gehöre ich nicht mehr her. Da hab ich dem Garten erklärt, wir machen jetzt ein Geschwisterl von dir in Afrika, führ dich nicht so auf, sondern hilf energetisch mit.

Hat er?

Ja, wir haben, wo nichts mehr war, nur Lehmboden, kein Grashalm, nichts, einen Garten gegründet und haben aus allen Teilen Marokkos 25 Meter hohe Bäume herbeigeschafft. Und jetzt ist es fertig, und es stimmt dort. Es ist ein Platz, der für mich Sinnlichkeit, Schönheit, Farbe, Duft, Kühle, Kunstwerk und Museum ist. Ich bin dort seit jeher ein besserer Mensch. Dafür habe ich alles aufgegeben, was ich an Sicherheit hatte. Ich habe damals meine Freunde gefragt, und es ist genau das passiert, was ich vermutet hatte. Die haben mir alle abgeraten, denn sie sind alle so gerne gratis nach Gardone gefahren.

Ein Kritiker schrieb: „Eine Mischung aus Natur, Kunst und Kitsch, die verzaubern muss, weil ihr Schöpfer eine Melange aus Kindskopf und Genie, Künstler und Verrückter ist.“ Lassen Sie das als Berufsbezeichnung gelten?

Der Kritiker kann schreiben, was er will. Ich bin ja nicht sein Oberlehrer. Die Angerührtesten sind die Journalisten. Ihr sitzt im Sicheren und schießt heraus. Und wenn man einmal zurückschießt, entsteht Panik.

„Jüdischer Zuckerlsohn“, hat Ihnen einer im Hawelka einmal narkotisiert zugerufen.

„Zuckerljud“ war es abgekürzt.

Zum Glück saß der Werner Schneyder daneben.

Ja, der ist aufgestanden und hat ihm eine auf den genauen Punkt gegeben, und er ist ohnmächtig am Boden gelegen. Und das war, glaube ich, eine sehr freundliche Tat vom Schneyder. Der Antisemitismus, den ich erfahren hab im Leben, war etwas, was immer dabei war. Als die Pluhar und ich geheiratet haben, da haben sie uns die Autoreifen aufgeschnitten und tagelang kamen ans Burgtheater Briefe mit Kot drauf. Ich tue das nicht überbewerten wie andere, die dann stolz sind, wenn so etwas passiert. Ich war viele Jahre auch so ein Beleidiger und so ein Unfreundlichkeits-Titan. Die Energie, die man ausschickt, kriegt man zurück. Es sei denn, man ist der Donald Trump, dann wird man Präsident.

In der Kleinen Zeitung haben wir am Tag danach auf Seite 1 mit einer Liedzeile von John Denver aufgemacht: „Good morning, America, how are you?“ Haben Sie eine Antwort auf die Frage?

Ich beobachte, dass es gärt. Nicht nur in Amerika. Es gibt Menschen, die nicht mehr bereit sind, sich zu fügen, die einen solchen Grad an Unzufriedenheit in sich haben, so viel Hass, so viel Neid, so viel Ohnmacht: Warum bin ich arbeitslos, die anderen nicht? Und die sich sagen: Wenn es mir schon nicht gut geht, soll es wenigstens den anderen schlechter gehen. Die sollen einmal spüren, wie es ist, wann es einem so geht wie uns. Und dann entlädt sich das. Ich sehe diese Auseinandersetzung in Frankreich, und ich sehe sie in Österreich.

Trump ist überall?

Das hat ja nicht der Trump gemacht. Der Trump hat diese Bereitschaft für Trump nicht geschaffen, sondern eine Politik, die zugelassen hat, dass man Menschen in einer Bitternis zurücklässt, im Gefühl: Ich werde nicht gehört, ich werde nicht gesehen, ich gehe anonym unter. Schon die vierte Wahl und es wird nichts besser bei mir, dort, wo ich wohne. Wir können die Verlierer nicht den Verführern überlassen. Es wäre die Aufgabe der Sozialdemokratie.

Sie haben früher in der Partei mitgearbeitet. Fühlen Sie sich ihr noch zugehörig?

Ich fühle mich zugehörig zu dem, was ihre Werte einmal angewandt waren. Ich komme ja aus einer Hardcore-ÖVP-Familie. Mein Vater hat einmal gesagt, die Gehsteige seien dazu da, damit die Kinder der Industriellen darauf gehen. Mein Vater war ein unglaublich hochmütiger Mensch. Und bei den Jesuiten, wo ich im Internat war, haben sie auch gesagt, ihr seid etwas Besseres. Wir haben 2000 Arbeiter am Belgradplatz gehabt, in dieser riesigen Heller-Fabrik, und der Vater hat gesagt: „Schau ihnen nicht in die Augen, denn Arbeiter sind Verwünscher.“ Und ohne Witz, am 1. Mai in der Elßlergasse 9, wo wir gewohnt haben, in diesem schönen Haus, das der Adolf Loos für meine Großmutter umgebaut hat, da war Verdunkelung. Mein Vater hat im Vorgarten ein Grammophon aufgestellt und hat laut Glenn Miller gespielt. Draußen sind sie marschiert und haben gesungen „Wir sind die Arbeiter von Wien“. Und der Vater hat gesagt: „Wenn die Sozi an die Macht kommen, dann werden sie uns noch die Tulpen im Vorgarten verstaatlichen.“ Also: Aus so einer harmlosen ÖVP-Familie komme ich.

Mit dem Kanzler Alfred Gusenbauer konnten Sie gut.

Der Alfred ist einer der gescheitesten Menschen, denen man begegnen kann. Wenn man wissen will, wie das Erziehungssystem in Schweden gemessen an dem in Burma ist, braucht man nur ihn zu fragen.

So wissend, und doch nur so kurz an der Macht.

Er ist gegen jede Vorhersage Kanzler geworden, weil er es sich auch so gewünscht hat. Und er hat auch erlebt, dass er dafür nicht geeignet ist. Er konnte es verarbeiten. Jetzt führt er ein seltsames Leben, das nicht meines ist.

Zu Werner Faymann hielten Sie Abstand.

Faymann ist acht Jahre entsetzlich verlorene Zeit. Acht Jahre Stillstand, Mutlosigkeit, Opportunismus, Kleinmut, falsche Richtung, also unverzeihlich.

Ist es jetzt unter Christian Kern besser geworden?

Mit der SPÖ ist es ganz schwierig, man müsste sie neu gründen. So wie man die ÖVP neu gründen müsste. Kern ist ein geschichtsbewusstes Wesen. Ich weiß nicht, ob der Faymann je Geschichtsunterricht in der Schule hatte. Das ist wirklich eine tragische Geschichte. Der Kern ist ein Interessierter, Ernstzunehmender. Er ist ein ernster Arbeiter, bei dem man den Eindruck hat: Der will, dass die Dinge anders werden in seiner Partei und im Land. Aber das ist ein ziemlich hartes Flechten von Netzen, die sofort wieder zerfallen. Die SPÖ ist in einer Art und Weise porös, was Qualität betrifft, dass der Kanzler allein nicht genügen kann.

War Ihre frühe Hinwendung zur Sozialdemokratie auch eine Form der Abwendung vom Vater?

Der Vater war 1958 schon tot. Er war drogensüchtig und hatte Flugangst. Da hat er begonnen, Opium zu nehmen. Nach dem Krieg war er einfach nicht er. Mein Bruder hat einen ganz anderen Vater kennengelernt. Mein Vater hat nach dem Krieg in Paris weitergelebt. Und wenn er einmal zu uns nach Wien kam, kam mir das so vor, wie wenn ein Racheengel mit einem Hubschrauber in unsere Seele stürzt.

Ist das noch immer so bedrückend gegenwärtig?

Beim Doderer heißt es: „Die Kindheit wird einem übergestülpt wie ein Kübel mit Farbe, und es rinnt ein Leben lang an einem herunter.“ Ich sehe das überhaupt nicht so. Ich habe gelernt, dass man sich noch einmal ohne Vater und Mutter selber in die Welt bringen kann. Ich will keine Schuldigen haben in meinem Leben. Bei mir sind nicht die Erzieher schuldig, nicht die Mutter, nicht der lieblose Vater, sondern für mein Leben bin ich verantwortlich. Ich bin erst mit 40 draufgekommen und habe mir gedacht, das geht nicht, du kannst nicht ununterbrochen sagen, wäre das damals so gewesen, dann wäre ich heute gelungener. Man kann zu sich nur sagen: Mach dich gelungen, wenn du daran glaubst, das Zeug zu haben, dich lernend zu verwandeln.

Haben Sie Ihren Vater wenigstens dafür bewundert, dass er auf der richtigen Seite der Geschichte stand?

Ich erzähle Ihnen was. Ich erinnere mich, weil das so schrecklich war. Der Furtwängler hat nach dem Krieg die Wiener Philharmoniker dirigiert. Der Vater ist mit meiner Mutter in der ersten Reihe gesessen. Furtwängler kommt herein und macht eine Handbewegung. Der Vater steht auf, klopft ihm auf die Schulter und sagt: „Wir haben nicht den Krieg gewonnen, damit vor mir ein Nazi stehen kann!“ Meine Mutter ist in sich versunken. Der Vater ist zurück auf seinen Platz, tumultartige Unruhe im Großen Musikvereinssaal. Dann hat er einen Flachmann aus der Tasche gezogen, mit Whisky zu gurgeln angefangen und gesagt: „Man kann sich nicht genug desinfizieren in einem Raum mit so vielen Nazis.“ Das ist alles lustig zu erzählen, aber für meine Mutter war es die Hölle.

Waren Sie und Ihre Mutter Verbündete?

Wir waren Verbündete in unserer Angst. Meine Mutter hat sich gefürchtet, und ich hab mich gefürchtet. Vaters Dasein war wie ein Pfropfen, der die Mutter und mich versiegelt. Ich habe gedacht, ich werde nie selbstbestimmt agieren können. Weil er so machtvoll war.

Aber Herr Heller, Sie waren doch auch machtvoll!

Ja, ich war auch machtvoll, aber ich habe gespürt, irgendwie fehlt mir der Dünger, damit das wachsen kann. Mein Vater wollte, dass ich Kardinal werde. Das hat er ernst gemeint und hat mir einen Altar gekauft und Messgewänder. Der Schilling- Michael, mein bester Freund, hat ministrieren müssen bei mir. Wenn wir Gäste hatten, gab es immer Kalbsbraten mit Risibisi. Und so wie andere Eltern sagen, mein Sohn wird jetzt Klavier spielen, hat er gesagt, mein Sohn wird Ihnen jetzt den Segen erteilen. Das Gute daran war, dass ich ein geflochtenes Körberl hatte, da durfte ich danach für die armen Heidenkinder sammeln. Von dem Geld habe ich mir dann die Sigurd- und Akim-Comics gekauft.

Fühlten Sie sich im Jesuiten-Internat behauster?

Nein, da war ich so deplatziert, wie man nur sein konnte: Ein Schlafsaal mit 80 Kindern, man durfte keine persönlichen Gegenstände haben. Ich habe dann einen Bindfaden aus dem Nähkasterl meiner geliebten Großmutter genommen und an irgendeinem Splitter vom Nachtkasterl befestigt. Diesen Faden habe ich dann beim Einschlafen festgehalten, damit ich irgendeine Geborgenheit habe.

Suchten Sie die auch bei Ihren Frauen und Liebschaften?

Ich habe sehr oft in die Kiste meines Talents gegriffen und meine Fähigkeiten veruntreut, um damit Frauen zu beeindrucken. Ich hätte vielleicht aus der Kraft, die ich für die Eroberung verwendet habe, einen Gedichtzyklus verfassen sollen. Ich weiß nicht, ob es für die Frauen nicht gescheiter gewesen wäre. Wir haben immer voneinander gelernt. Die Frauen waren die großen Lehrerinnen bis zu dem Tag, wo es meinen Sohn gab. Ich habe früher immer mit Ekel gehört, wenn von bedingungsloser Liebe die Rede war. Weil ich es für unmöglich hielt. Dann habe ich gewusst, dieses Kind liebe ich bedingungslos. Er kann nichts falsch machen. Solange ich lebe, werde ich dieses Kind bedingungslos lieben. Das hat auch meine Beziehungen zu Frauen radikal verändert.

Es gab dennoch Beziehungen, die zu Lebenskrisen führten, nicht nur bei Ihnen. Eine endete mit einer Verzweiflungstat. Sie sagen, dieser Tod habe alles in Ihrem Leben verändert. Fällt es schwer, darüber zu sprechen?

Nein, ich bekenne mich zu meinem Leben. Das habe ich auch gelernt: dieses Bewerten anderer. Zu sagen, der ist grauenhaft, das finde ich unerträglich. Ich kenne bei niemandem etwas Unsympathisches, was ich nicht im Laufe meines Lebens auch bei mir kennengelernt habe. Ich kenne mich mit unendlich vielen Schwächen, unendlich vielen Infamien, unendlich vielen Überhebungen. Man muss das alles wegarbeiten. Man wird als Entwurf zu einem Menschen geboren und dann muss man im Laufe des Lebens - bei mir sind es jetzt 70 Jahre - aus dem Entwurf behutsam und beharrlich versuchen, einen halbwegs gelungenen Menschen zu schaffen. Das ist das ernsteste Projekt im Leben. Alles andere ist nachgeordnet.

Wie weit sind Sie?

Auslage in Arbeit.

Sie sind 70. Was haben Sie noch mit sich vor?

Ja, was hat „es“ mit mir vor? Mein Bewusstsein zu verfeinern. 2000 Jahre jüdisch-christliches Abendland, mit Krankheit als Weg, Qual als Erkenntnisstiftung, all das habe ich erlebt. Jetzt möchte ich einmal durch Freude wachsen und lernen, lachend, andere ermutigend.

Klingt nach einem Sendungsauftrag.

Ich habe nichts Missionarisches, ich kann nur davon reden, wie ich versuche, meine Dämonen in den Griff zu kriegen. Dieser Orang-Utan der Angst, der sich vor mir aufbäumt und sagt: „Fürchte dich vor mir!“, der schrumpft jetzt langsam. Dann gibt's wieder Nächte, wo ich das Gefühl habe, ich bestehe nur aus Molekülen der Fremde. Dann bin ich mir so fremd, dass ich tiefe Sehnsucht verspüre, aus diesem Körper herauszukommen. Von den Genen her habe ich alle Chancen, alt zu werden. Da müssen sich meine Feinde warm anziehen. Meine 102-jährige Mutter hat zu jemandem gesagt: „Wissen S', es ist schrecklich, wenn man so alte Kinder hat. Der Große ist jetzt schon 82, und der Kleine wird auch schon 70.“ Man muss halt schauen, dass man halbwegs in Form bleibt und sich die Schuhbandeln selber zubinden kann. Dann ist alles gut.